Essay & Reportage im
www. LeineBlick.de
- Thema Afghanistan -

- ab Dezember 2001 -


Die Lage in Afghanistan

Peter SchwittekPeter Schwittek arbeitet seit vielen Jahren für die deutsch-afghanische Hilfsorganisation OFARIN und versorgt den LeineBlick seit Oktober mit zum Teil ganz aktuellen Berichten aus Kabul, die sie alle in unseren Archiv nachlesen können. Bemerkenswert sind auch seine Anmerkungen zur Krise nach dem Anschlag auf das World Trade Centre, die wir im September 2001 veröffentlichen konnten.
Hier setzen wir die Reihe mit Berichten ab Dezember 2001 fort.

Inhalt:
30.3.2002:
Fensterscheiben gegen die Kälte
25.3.2002:
Eindrücke eines Bundeswehrsoldaten in Kabul
18.3.2002:
Droht in Afghanistan ein weiterer Bürgerkrieg?
13.1.2002:
UN-Gehälter für zehntausende afghanischer Mitarbeiter werden wirtschaftlichen Aufschwung behindern
11. - 16.12.2001:
Reise nach Kabul
Unermessliche Hilfsgüter werden sich über das Land ergießen und schwere Schäden anrichten
7.12.2001:
In Kabul ist die öffentliche Sicherheit brüchig
3.12.2001:
Kabul blickt auf den Petersberg

ältere Berichte aus Afghanistan


Einblick: Aktuelle Arbeit von OFARRIN:
Fensterscheiben gegen die Kälte

Kabul im März 2002 - Es erfordert einige Konzentration, die Schlagloecher auf der Strasse zum Qargha-See zu vermeiden. Das Gelaende steigt allmaehlich an. Aber die Vororte von Kabul wollen nicht enden. Jetzt biegen wir ab, fahren noch ein kurzes Stueck eine lehmige Piste entlang und steigen dann aus. Die Menschen hier draussen im Stadtteil Qargha arbeiten groesstenteils in der Innenstadt, oder sie haben einmal dort gearbeitet und sind jetzt arbeitslos. Eine Minderheit betreibt auf minimalen Flaechen etwas Gartenwirtschaft. 

Ingenieur Jan Mohammad geht auf ein Haus zu und klopft an. Ein Mann oeffnet. Jan Mohammad fragt, ob wir eintreten duerfen. Der Mann sorgt zunaechst dafuer, dass die Frauen alle irgendwo in Haus und Hof verschwinden. Dann ueberprueft er, ob der Hund gut angebunden ist. Jetzt duerfen wir das von hohen Mauern umgebene Grundstueck betreten. An zwei Seiten befinden sich einstoeckige Gebaeude. Die sehen wir uns an. Ein Zimmer hat zwei Aussenfenster, die vollkommen verglast sind. Das ist von uns. 

Hier draussen gab es ein Lager von Verbuendeten der Taliban - Araber und Pakistaner. Die wurden im Oktober von der amerikanischen Luftwaffe mehrfach angegriffen. Schliesslich wurde das Munitionsdepot der frommen Krieger getroffen. Die meisten Fensterscheiben von Qargha flogen heraus. Weitere Gebaeudeschaeden entstanden. OFARIN moechte beduerftigen Familien die Verglasung der Fenster eines ihrer Raeume ermoeglichen. Dazu stehen einige Mittel des Deutschen Caritasverbandes und wenige Privatspenden zur Verfuegung. Auch in der Naehe des Flugplatzes fuehrt OFARIN eine solche Verglasungsaktion durch. 

Das Spendenkonto von OFARIN
360 104 418 BLZ: 790 500 00
Sparkasse Mainfranken Würzburg 
- Die Spenden sind steuerlich abzugsfähig -
Lesen Sie zum Hintergrund von OFARIN auch den ZEIT-Artikel von Peter Schwittek: 
Mathe gegen Taliban

Man kann nur wenigen Familien helfen. Die Zahl der Geschaedigten ist viel zu gross. Hier in Qargha wurden bisher nur zwanzig Familien versorgt. Dann erhob sich Streit. Jeder wollte etwas haben. Eine Delegation aus Siedlungen, die einen Kilometer entfernt liegen, rueckte an und verlangte, dass auch ihre Gegend Fensterscheiben bekommt. Entweder alle sollten etwas haben oder keiner. Die Aktion musste unterbrochen werden. Heute machen wir weiter. Nachdem wir einige verglaste Fenster gesehen haben, besuchen wir Familien, denen wir noch Fensterscheiben zur Verfuegung stellen wollen.
 

Ungefragt stoesst der Wakil hinzu. Der ist der Vertreter der Bevoelkerung dieser Gegend. Wakile stehen im Ruf, das Wohl ihrer Verwandten deutlich ueber das der Menschen zu stellen, die sie vertreten sollten. Dieser hier ist aber hilfsbereit und es gelingt uns, seine Rolle auf die Beratung einzuschraenken. Wieder klopfen wir an eine Tuer, wieder duerfen wir eintreten, nachdem die Frauen fuer uns ausser Sicht sind und der Hund angekettet wurde. Wir betreten einen grossen Innenhof. Alles ist kahl und staubig. Nirgendwo ist ein Grasfleck. Die wenigen Baeume sind scheinbar ausgetrocknet. Eine Kuh trottet durch den Staub. An den Aussenmauern stehen mehrere Gebaeude. Einige sind offensichtlich unbewohnt. Wir buecken uns durch einen niederigen Eingang und steigen im Halbdunkel eine Lehmtreppe hoch. Oben oeffnet man eine Tuer. Wir streifen die Sandalen ab und stehen bald auf ein paar Teppichresten und einem maschinengewebten Kelim. In einer Ecke des Zimmers ist das Bettzeug aufgetuermt. An den Waenden liegen Sitzkissen aus. Hier wohnt also jemand. Die Fenster in Kabuler Haeusern sind gross. Sie bestehen aus einem Holzrahmen. Zwischenstreben teilen sie in acht bis zehn Felder ein. Einige dieser Felder lassen sich oeffnen. Nur in Ausnahmefaellen ist noch eine intakte Scheibe vorhanden. Jan Mohammad misst schnell die Flaechen aus, in die Glas eingesetzt werden soll, und Quddus schreibt die Masse und den Namen des Wohnungsinhabers auf. Dann geht es in ein anderes Gebaeude des Grundstueckes. Hier sieht es so aehnlich aus. Auf einem Sitzkissen liegt ein Buendel. Es ist ein Kleinkind, das schlaeft. Die Frauen, die wegen uns den Raum verlassen mussten, haben es liegen lassen. Auch hier wird ausgemessen. Dann will man uns die Fenster des Nebenraumes ebenfalls ausmessen lassen. Wir koennen aber nur die Scheiben fuer einen Raum liefern und gehen weiter. 

Nun bringt man uns in ein anderes Haus. Der Raum ist intakt aber leer, keine Matte auf dem Boden, alles Lehm. Hier wohnt keiner. Hier gibt es nichts. Wir gehen wieder und verlassen das Grundstueck. Zwei Eingaenge weiter klopfen wir wieder an. Die Frauen muessen wieder verschwinden. Der Innenhof ist wesentlich kleiner. Zwischen beschnittenen Obstbaeumen, die teilweise schon bluehen, sind Beete angelegt worden. Auf einer Waescheleine haengen mehrere Tuecher. Sie bestehen alle aus fadenscheinigen, rechteckigen Flicken, die zusammengenaeht wurden. Auch hier sind die Fensterscheiben zerstoert. Der Hausherr weist uns auf eine Stelle in der Wand hin, die einen Teffer abbekommen hat und nur notduerftig geflickt wurde. Da koennen wir nicht helfen. Der Hausherr entscheidet sich fuer einen Raum und wieder nehmen Quddus und Jan Mohammad die Groesse der Scheiben auf, die besorgt werden muessen. In der Zwischenzeit sehe ich mir ein Bild an. Es befindet sich auf einem Stueck Karton, das an die Wand geheftet wurde. Ein paar schmucke Haeuser eines Alpendorfes sind da abgebildet. Ueber einem Geschaeft steht "Apotheke". In der Ecke dieses Raumes steht ein kleiner Fernseher. 

Das naechste Grundstueck, das wir besuchen, sieht anders aus. Das Haus ist mit Zement verputzt und frisch gestrichen.Gerade wollen wir das Untergeschoss betreten, als ich einen Blick nach oben werfe. Alle Fenster des Obergeschosses sind verglast. Wir wenden uns wieder dem Ausgang zu und lassen uns auch nicht dadurch aufhalten, dass ein junger Bursche schon mit einem Tablett voller Teetassen herbeieilt. Man war gut auf uns vorbereitet. In allen anderen Haeusern, die wir danach noch sehen, gibt es kein Fenster, dessen Scheiben intakt sind. Das noetige Glas wird spaeter von OFARIN in einer Glaserei gekauft und dann nach Qargha gebracht werden. Die Familien setzen die Scheiben selber ein.
Dabei wird einfach eine Leiste gegen das Glas gesetzt. Spaeter findet dann noch ein Kontrollbesuch statt. 

Im naechsten Haus trauert man. Der Vater des Hausherrn ist gestorben. Wir werden trotzdem gebeten, die Fenster eines Raumes auszumessen. Danach fragt Quddus den Hausherrn, ob wir zu den Trauernden, die sich in einem anderen Raum aufhalten, gehen duerfen. Wir sind willkommen. Vielleicht zwoelf Maenner sind versammelt und sitzen auf den Kissen an der Wand. An der Kopfseite sitzt ein Mullah. Ich darf mich neben ihn setzen. Und schon beginnt der Mullah ein Gebet. Danach erbitten wir alle den Segen Allahs. Dann bringt man Tee und ein paar bescheidene Suessigkeiten, und die Maenner erzaehlen, wie die Familien waehrend der amerikanischen Luftangriffe geflohen seien. Hinterher waren alle
Araber und Pakistaner aus dem Lager verschwunden - aber auch die Habe der Familien aus den verlassenen Haeusern.Inzwischen haben sich drei weitere Maenner aus der Nachbarschaft dazugesetzt und der Mullah beginnt wieder zu beten. Als er fertig ist, verabschieden wir uns. 

Einige Grundstuecke weiter gibt es Meinungs- Verschiedenheiten. Die Mitarbeiter von OFARIN meinen, das Haus sei unbewohnt. Aber der Wakil und die Nachbarn, ueber deren Anwesen wir hier eingetreten sind, bestehen darauf, dass hier eine alte Frau lebe. Die sei wohl zu der trauernden Familie gegangen. Das Haus besteht scheinbar aus einem einzigen ebenerdigen Raum, der verschlossen ist. Hinter den scheibenlosen Fenstern haengen helle Tuecher. Der Garten ist verwahrlost. An einer Mauerecke befindet sich ein halbverfallenes Klohaeuschen. Vor dem Wohnhaus stehen zwei kleine Tischchen, von denen je ein Bein abgebrochen ist. Wie mag die alte Frau hier zurecht kommen? Es ist eine
schoene Geschichte, dass in Afghanistan die alten Menschen von ihren Familien versorgt werden und nicht einsam sind, wie bei uns. Hier in der Stadt trifft sie leider nicht immer zu. Jan Mohammad misst die Fenster von aussen aus und wir ziehen weiter. 

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In einer anderen Welt:
Eindrücke eines Bundeswehrsoldaten in Kabul
- Text und Bild:  Oberstabsfeldwebel Johann Fritsch, ISAF Presse- und Informationszentrum, Kabul -

Kabul/Garbsen, den 25.3.2002 -. "Mister, how are you" - rufen die Kinder von Kabul den Tagespatrouillen der internationalen Schutztruppe ISAF in Afghanistan zu. Die Fallschirmjäger des Einsatzverbandes sind bei Tag und Nacht in den Straßen Kabuls unterwegs. Sie patrouillieren zusammen mit einheimischen Polizisten auf Fahrzeugen und zu Fuß. Mit diesen Patrouillen wird der Polizei der Rücken gestärkt und damit die Sicherheit in der Stadt erhöht.

Während in der Nacht wegen der Ausgangsbeschränkung kaum Zivilbevölkerung anzutreffen ist, kommt bei den Tagespatrouillen fast Volksfeststimmung auf. Wo die Fallschirmjäger auftauchen sind sie im Nu von Kindern umringt, aber auch die männlichen Erwachsenen, sind sehr neugierig und winken den Soldaten meistens freundlich zu. Die verschleierten Frauen in ihren blauen Burkhas huschen an den fremden Soldaten vorbei. Nur selten zeigen Frauen ihr Gesicht, Gespräche mit ihnen sind so gut wie ausgeschlossen. Das Verhältnis zur Bevölkerung ist entspannt, negative Gesten eher selten.

Dies alles darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Lage in der Stadt angesichts vieler Einflüsse nicht stabil ist. Die Kriminalität in dieser Nachkriegssituation, aber auch die Kämpfe draußen im Land und die erwartete Rückkehr von rund 400.000 Flüchtlingen nach Kabul können und werden nicht ohne Auswirkungen auf die Hauptstadt bleiben.

ISAF-Soldaten schützen die Hauptstadt Kabul

Knapp 5.000 Soldaten unterstützen im Auftrag der Vereinten Nationen (UNO) die afghanische Interimsregierung bei der Schaffung sicherer Verhältnisse in Kabul. Zur Aufgabe der International Security Assistance Force (ISAF) gehört der Schutz der Hauptstadt Kabul, sowie des Personals der Vereinten Nationen und der Mitarbeiter humanitärer Organisationen. Zu den Männern und Frauen der Schutztruppe aus 19 Nationen gehören auch rund 1.000 Angehörige der Bundeswehr.

Über 5.000 Kilometer von den heimatlichen Standorten entfernt stellt nicht nur der oft 16 bis 18-stündige Dienst hohe Anforderungen an die deutschen Soldaten. Das Feldlager "Warehouse" auf 1800 Metern Höhe, in einem ehemaligen Bauhof gelegen, bietet kaum Annehmlichkeiten. Der Alltag der Soldaten ist nicht mit dem Dienst in Deutschland vergleichbar. Innerhalb des Feldlagers geht es sehr international zu.
Sowohl im deutsch geführten multinationalen Stab der "Kabul Multinationale Brigade" wie auch in dem von ihm geführten deutsch/ niederländisch/ österreichisch/ dänischen Einsatzverband sind diverse Fremdsprachen zu hören. Dies gilt auch für die im "Warehouse" zusätzlich untergebrachten Versorgungseinheiten mehrerer ISAF-Staaten.
Da ist auf den Straßen neben deutsch und englisch u.a. dänisch, niederländisch, rumänisch, französisch, italienisch, spanisch und bulgarisch zu hören.

Ein beträchtlicher Teil der deutschen Soldaten ist nicht auf Patrouillen- Dienst in der Stadt unterwegs, denn sie haben ganz andere, höchst unterschiedliche Aufgaben. Da gibt es welche, die sich im Rahmen der zivil- militärischen Zusammenarbeit um die Renovierung von Schulen und anderer Objekte kümmern. Gefährliche Arbeit leisten die Kampfmittel- Beseitiger. Dies wurde der deutschen Bevölkerung spätestens mit dem Tod von drei dänischen und zwei deutschen Soldaten vor wenigen Wochen deutlich. Aber gerade diese Spezialisten erbringen einen nicht hoch genug einzuschätzenden Beitrag für ein sichereres Leben der Einheimischen, aber auch ihrer Kameraden.

Alltag der Soldaten im Feldlager

Zahllose kleine Gruppen sorgen für ein geordnetes Leben in dem einer kleinen Stadt gleichendem Feldlager. Da gibt es eine Feldwäscherei, die Küche, einen Marketenderladen, die Wasseraufbereitungsanlage und vieles mehr. Zwei deutsche Militärpfarrer und ein Psychologe sind für die Soldaten ständig ansprechbar, ein feldmäßiges Internetcafe, Telefonanschlüsse und die Feldpost sorgen für ordentliche Verbindungen mit den Angehörigen daheim.

Nicht nur die komplette Ausrüstung, auch die gesamten Nahrungsmittel müssen aus Deutschland eingeflogen werden. Wer jedoch einmal einen Blick auf die hygienischen Zustände in den Schlachtereien und Läden der Bazare geworfen hat, weiß, dass dies die einzig mögliche Lösung ist. Bestand die Verpflegung vor Wochen noch weitgehend aus Fertiggerichten der sogenannten "Einmannpakete", so ist mittlerweile das Angebot wesentlich reichhaltiger geworden. Wesentlich verbessert hat sich in den letzten Wochen auch die Sanitärsituation. Container mit Wasch- und Dusch- Möglichkeiten haben die morgendliche Wäsche aus der Wasserflasche weitgehend abgelöst und die rustikalen Latrinen gehören wohl auch bald der Vergangenheit an.

In der knapp bemessenen und kaum als solche zu bezeichnenden Freizeit müssen sich die Soldaten um sich selbst kümmern. Körperpflege, die Reinigung von Waffen und die Pflege des eingesetzten Gerätes nehmen viel Zeit in Anspruch. Wäsche abgeben, Wäsche holen, es sind viele Dinge, die da zwischen Dienst, Essen und ein paar Stunden Schlaf zu erledigen sind.Langeweile kann da nicht aufkommen und so vergehen die Tage und Wochen in Kabul wie im Fluge.

Der Auftrag heißt Frieden

Was bleibt, ist ein herrlicher Blick vom deutschen Feldlager auf die nahen Gebirgsketten des Hindukusch. Die Gipfel um Kabul sind bis über 5.000 Meter hoch und bieten ein prächtiges Panorama. Dieses Bild wird den Bundeswehr- Angehörigen sicher lange in Erinnerung bleiben. Doch Zeit, um es zu genießen haben die Soldaten wenig, denn sie sind
schließlich nicht als Touristen nach Afghanistan, in dieses ferne und fremde Land gekommen.

Ihr Auftrag heißt Frieden und das ist eine Aufgabe, die erst gelöst werden muss. Die deutschen Männer und Frauen tun mit ihren Kameraden aus den anderen Nationen dafür was sie können. Ob die Afghanen die Chance auf eine friedliche Zukunft mittel- und langfristig nutzen, bleibt abzuwarten.
 

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eMail aus Kabul:
Droht in Afghanistan ein weiterer Bürgerkrieg?

Liebe Freunde,

seit ueber einer Woche bin ich wieder in Kabul. In den Monaten vor meiner Rueckkehr liess es sich kaum rechtfertigen, Ihnen Rundbriefe zu schicken, obwohl weiterhin regelmaessige Telefonate mit der Belegschaft von OFARIN
stattfanden. Der Abstand war zu gross geworden. Nun einige neuere persönliche Eindruecke!

Das Leben in Kabul normalisiert sich, aber das vertrauen in eine friedliche Zukunft ist begrenzt

Die Bettelei in den Strassen von Kabul hat deutlich nachgelassen. Man hoert bisweilen Musik. Aber die Frauen sind fast noch alle verschleiert. Die Maenner haben ihre Baerte lediglich getrimmt, aber fast nie abrasiert. Es leben mehr Menschen hier. Viele sind aus Pakistan zurueckgekehrt. Viele Afghanen kommen auch aus den duerregeschaedigten Landstrichen in die Staedte, weil sie hier auf Arbeit hoffen. Viele verlassen die Provinz, weil das Leben dort viel unsicherer ist als in Kabul. Dabei zoegern die meisten Afghanen, die sich in Pakistan aufhalten, noch mit der Heimkehr. Das Vertrauen in eine friedliche Zukunft ist begrenzt. Afghanen in Peshawar sagen meistens, dass sie mindestens noch sechs Monate abwarten wollen, ehe
sie zurueckkehren.

Fuer Staedte wie Kabul ist diese zoegerliche Rueckwanderung ein Segen. Schon jetzt ist der Wohnraum knapp und teuer geworden. Doch setzt nun - zu Beginn des Fruehjahrs - Bautaetigkeit ein, so dass der weitere Zustrom von Menschen bald auf ein besseres Angebot an Wohnraum stossen wird. Der Strassenverkehr hat zugenommen, und den eifrigen aber ungeschulten Verkehrspolizisten gelingt es leicht, Stauungen wie in einer richtigen Hauptstadt zu erzeugen.

Hilfsorganisationen als Preistreiber

Grosse Preistreiber sind die Hilfsorganisationen, die in gewaltiger Anzahl nach Afghanistan gestrebt sind. Sie alle brauchen Bueroraum und Unterkuenfte fuer ihre Mitarbeiter. Die wenigen alteingesessenen Organisationen weiten
ihre Taetigkeiten erheblich aus. Der grossen Mehrzahl der Auslaender, die hier helfen wollen, war Afghanistan bisher vollkommen unbekannt. Die auslaendischen Helfer suchen begierig nach afghanische Mitarbeitern.
Hinsichtlich der Qualifikation und der persoenlichen Integritaet von Bewerbern ist man nicht kleinlich. Der Bedarf ist gross und die meisten Hilfsorganisationen verfuegen im Augenblick ueber das noetige Geld.

Wohltaten, fern von Kabul ersonnen ...

Jede Woche reisen aeusserst wichtige Persoenlichkeiten aus westlichen Laendern an. In den wenigen Tagen oder Stunden, die sie sich in Afghanistan aufhalten, geben sie oeffentlich Hilfszusagen ab. In der Heimat haben Sie festgelegt, wie den Afghanen zu helfen ist. Dort haben sie die Zentrale einer groesseren Hilfsorganisation mit reichlich Geld versorgt und ihr dafuer die Durchfuehrung eines Hilfsprogrammes aufgetragen. Die frisch eroeffnete Niederlassung dieser Organisation erhaelt das fertige Konzept und muss jetzt die Wohltaten begehen, die in der Ferne ausgedacht wurden. Es
soll schnell gehen, und es muessen eindrucksvolle Zahlen dabei herauskommen. Waehrend ihres Kurzbesuches werden die aeusserst wichtigen Persoenlichkeiten vom Fernsehen ihres Heimatlandes aufgenommen - zusammen mit einigen von
ihrem Programm beglueckten dankbaren Afghanen.

Die Autoritaet der Kabuler Uebergangsregierung wird in der Provinz kaum wahrgenommen.

Waehrend westliche Politiker ihre Energie darauf konzentrieren, sich im Hilfsgeschehen zu profilieren, scheinen sie die Gefahren zu uebersehen, die der politischen Entwicklung Afghanistans drohen. In der Stadt Kabul sorgt
die Anwesenheit der internationalen Friedenstruppen etwas fuer die oeffentliche Sicherheit. Doch in den meisten Landesteilen ist es unruhig. In der Provinz Paktia kaempfen die Amerikaner noch immer gegen Reste der Taliban und ihrer arabischen Verbuendeten. Woechentlich erfaehrt man, dass diese Gegner wieder einmal um mindestens die Haelfte reduziert wurden.
Dennoch scheint die Intensitaet solcher Kaempfe kaum abzunehmen. Auch greift die amerikanische Luftwaffe immer wieder in Auseinandersetzungen zwischen regionalen Kriegsfuersten ein, die sich z.B. um den Posten des Gouverneurs streiten – so vor wenigen Wochen in Paktia und vorgestern in der Provinz Ghazni. Aber auch wo die Amerikaner nicht eingreifen, gibt es Spannungen oder offene Kaempfe. In vielen Provinzen ist es sehr unruhig. Die Autoritaet der Kabuler Uebergangsregierung wird „draussen“ kaum wahrgenommen.

Machtkampf in Kabul

In Kabul streben der Verteidigungsminister Fahim und der Innenminister Qanuni ganz ungeniert die volle Uebernahme der Macht an. Hinter Qanuni stehen die Einwohner des Schomali, noerdlich von Kabul, die im Jahre 2000 von den Taliban vertrieben wurden. Fahim fuehrt die Krieger aus dem
Pandschirtal an. Er war einst Kommunist, gruendete aber unter dem letzten kommunistischen Praesidenten Nagibullah eine interne antipaschtunische Oppositionsgruppe. 1992 wechselte er zusammen mit dem Usbekenfuehrer Dostam
die Seite und ermoeglichte so den Sturz der Kommunisten. Er hat die schlichte Gesinnung eines Raeuberhauptmanns und haelt es fuer sein Recht als Sieger alle, die nicht zu seinem Gefolge gehoeren, als Unterworfene zu behandeln.

Nur der Ex-Koenig und seine Familie könnten die Mehrheit der Warlords hinter sich bringen und einen Bürgerkrieg verhindrn

Gemeinsam mit dem Expraesidenten Rabbani versuchen Fahim und Qanuni, die Zusammensetzung der Nationalversammlung (Loya Jirgha), die eine Regierung
auf breiter Grundlage einsetzen soll, so zu manipulieren, dass sie dort eine Mehrheit haben. Politische Morde von einigen Gefolgsleuten des ehemaligen Koenigs dienen der Einschuechterung dieser wichtigsten Gegner.
Es scheint nur eine Moeglichkeit der Bildung der eigentlichen Regierung durch die Loya Jirgha zu geben, die dem Willen der Bevoelkerung entspricht und einen dauerhaften Frieden sichern kann: Der Ex-Koenig und seine Familie muessen
sich durchsetzen. Niemand sonst wird eine Mehrheit der Warlords hinter sich bringen. Der Koenig ist die letzte Chance fuer sein Volk. 
Jede andere Loesung bedeutet den Rueckfall in den Buergerkrieg. Wenn nach der Loya Jirgha das Chaos ausbricht, duerfte sich die Weltgemeinschaft endgueltig von Afghanistan distanzieren und das Land einem Schicksal wie dem Somalias ueberlassen.

Setzt Amerika wieder aufs falsche Pferd?

Die westliche Oeffentlichkeit wird dann ueberzeugt sein, dass Afghanistan auch mit groesster Anstrengung einfach nicht zu helfen ist. Aber haben die Afghanen selber Schuld, wenn es soweit kommen sollte? 
Das Talibanregime wurde von den Amerikanern vertrieben. Die brauchten dazu die Nordallianz und brachten diesen fragwuerdigen Verbuendeten in Kabul faktisch an die Macht. Auf der Petersberg- Konferenz im November wurde diese Tatsache dadurch etwas kaschiert, dass man mit Muehen den Paschtunen Karzai als Uebergangspraesidenten durchsetzte. Der afghanische Buerger hatte auf keine dieser Weichenstellungen Einfluss. Seither wies der Westen alle Bitten afghanischer Politiker, und insbesondere des Uebergangspraesidenten Karzai zurueck, die Friedenstruppen zu staerken und die geografische Reichweite ihres Mandates zu vergroessern. Stattdessen begannen die USA eine
afghanische Armee aufzubauen, um die Entsendung weiterer westlicher Truppen ueberfluessig zu machen. Der Aufbau einer afghanischen Armee bedeutet aber in der jetzigen Situation nichts anderes als dass die Kaempfer der 
Nordallianz - und vielleicht noch die einiger mit ihr konkurrierender Milizen - in Uniformen gesteckt und mit noch mehr Waffen versorgt werden, als sie ohnehin schon haben. 
Das ist ein massiver Beitrag zum Wiederaufleben
des Buergerkrieges. Man kann nur hoffen, dass die Amerikaner diese Politik nur so lange verfolgen, wie sie die Nordallianz und andere Milizen zur Bekaempfung der al Qaida benoetigen, und danach schleunigst das Ruder herumwerfen. Sonst werden sie sich selbst und die Bevoelkerung eines bekriegten Landes wieder einmal in letzter Minute um die Fruechte ihres militaerischen Erfolges bringen, wie einst im Golfkrieg, als sie es versaeumten, Saddam Hussain zu stuerzen.

Noch besteht eine Chance des Erfolges

In Afghanistan ist der erste Feldzug des Krieges gegen den Terrorismus noch nicht ganz abgeschlossen. Das eigentliche Ziel, die Ausschaltung von Osama bin Laden und seiner al Qaida, scheint er nicht zu erreichen. Aber er hat einen wuenschenswerten Nebeneffekt gehabt: Afghanistan wurde von dem menschenverachtenden Talibanregime befreit. Es besteht die realistische Moeglichkeit, dass dieses Land wieder zu Ruhe und geregelter Staatlichkeit zurueckfindet. Das waere ein entscheidender Schritt zur Befriedung der
ganzen Region. Und wo eine allgemein akzeptierte staatliche Ordnung herrscht, werden Terroristen kaum Basen und Ausbildungszentren aufbauen koennen. Der Afghanistan- Feldzug kann also ein bedeutender und dauerhafter 
Teilerfolg im Kampf gegen den Terrorismus werden. Wenn die internationale Gemeinschaft allerdings die aktuelle Entwicklung Afghanistans vernachlaessigt und nicht bereit ist, notfalls lenkend in die Bildung der Regierung durch die Loya Jirgha einzugreifen, duerften alle Anstrengungen dieses Feldzuges umsonst gewesen sein. Man muesste alle Hoffnungen in die Zukunft Afghanistans aufgeben. Und der Afghanistanfeldzug haette fuer den Kampf gegen den Terrorismus nicht den geringsten Fortschritt gebracht.

Herzliche Gruesse, Peter Schwittek

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Mieten in Kabul um mehr als das Zenfache gestiegen:
UN-Gehälter für zehntausende afghanischer Mitarbeiter werden wirtschaftlichen Aufschwung behindern
Randersacker, den 13.1.2002 -  Heute soll nach längerer Pause wieder ein Überblick über das Geschehen in Afghanistan und seine Auswirkungen auf eine kleine Hilfsorganisation wie OFARIN gegeben werden.

Im Augenblick wird die Belegschaft von OFARIN in Kabul von ihrem Hauswirt gedrängt, höhere Miete zu zahlen oder das Bürogebäude zu verlassen. Bisher hatten wir für das Anwesen 300 $ bezahlt. Ende November war uns mitgeteilt worden, daß wir ab Neujahr 1,200 $ zahlen sollten. Dann hörten wir nichts mehr. Nun tauchte der Vermieter wieder auf und erklärte, daß er das Haus für 4,500 $ vermieten könne. Uns, die wir seit 1998 tadellose Mieter gewesen seien, bot er einen Sonderpreis von 3,000 $ an, der für das ganze Jahr im Voraus zu entrichten sei. Vermutlich übertreibt er nicht einmal. 
Wir verhandeln jetzt mit größeren  Organisationen, mit denen wir zusammenarbeiten wollen, ob die diese Miete zahlen. Sie würden dann das Haus übernehmen. Wir könnten es bis auf weiteres mitbenutzen. Die Belegschaft von OFARIN sucht seit einigen Wochen fieberhaft nach einer neuen Unterkunft. Dabei ist es klar, daß wir in den beiden Stadtvierteln, in denen sich bisher die Ausländer aufhielten, nichts Bezahlbares finden werden. In einigen anderen Stadtteilen gibt es keinen Strom.
Überall sind die Eigentumsverhältnisse unsicher. Die afghanischen Regierungen der letzten 23 Jahre enteigneten gerne politische Gegner und Bürger, die das Land verlassen hatten. Solche Menschen kehren jetzt heim und machen ihre Ansprüche geltend. 

Eine sehr gute Meldung zwischendurch: Nachdem bis letzte Woche noch keine Niederschläge gefallen waren, regnet es in Kabul seit drei Tagen ununterbrochen. Die UN- Organisation World Food Program wird sich etwas einfallen lassen müssen, um die brutalen Importe von EU- und US- Weizen in Zukunft zu rechtfertigen. 

Wenn man von diesen fragwürdigen Lebensmittel- Verteilungen, über die auch im letzten Rundbrief  berichtet wurde, absieht, ist die afghanische Bevölkerung bisher von der internationalen Hilfswelle kaum erreicht worden. Wir Hilfsorganisationen spüren die anrollende Flut dagegen schon, z.B. an der Miete. 
Ähnliches wird sich in den nächsten Monaten bei der Besoldung unserer Mitarbeiter abspielen. Die UN- Organisation UNDP hat angekündigt, daß sie in den nächsten Monaten einige Zehntausend Afghanen einstellen werde. Diese sollen so besoldet werden wie in Pakistan. Es werden also Gehälter von über 1000 $ im Monat gezahlt werden. Die Hilfsorganisationen, die einigermaßen qualifiziertes Personal haben wollen, werden nicht umhin können, nachzuziehen. Viele werden das nicht leisten können. Wie sollen diese Massen von Helfern später einmal vom afghanischen Staat oder von afghanischen Unternehmen übernommen werden? Oder will die internationale Gemeinschft bis ans Ende aller Tage ein Riesenheer von Menschen wirtschaftlich weit besser stellen als afghanische Normalbürger? Dabei sind die jetzt noch niedrigen Löhne in Afghanistan eine gute Voraussetzung für die wirtschaftliche Erholung. Es bleibt festzuhalten, daß die UN-Organisationen wieder einmal für verhängnisvolle Weichenstellungen sorgen. 

Um auch einmal etwas Gutes über die Vereinten Nationen zu sagen: Im ersten Quartal dieses Jahres sind alle UN-Flüge zwischen Islamabad und Afghanistan für Mitarbeitern von Hilfsorganisationen, die bei den UN registriert sind, kostenfrei. 

OFARIN hatte im November damit begonnen, die  Belegschaften von Krankenhäusern mit Notgehältern zu entlohnen. Die Talibanregierung hatte die Regierungs- Angestellten schon lange nicht mehr bezahlt. Diese mußten versuchen, sich mit irgendwelchen anderen Arbeiten durchzuschlagen und kamen großenteils nicht mehr zur Arbeit. Dadurch drohte der Betrieb in mehreren Kabuler Krankenhäusern zusammenzubrechen. OFARIN konnte die Unterstützung von CPHA (Krankenhaus Chak-e-Wardak; Karla Schefter) gewinnen. Mit CPHA- und OFARIN-Geld wurden die Belegschaften von drei Krankenhäusern besoldet. Als ich in Kabul war, hatten wir den Eindruck, daß diese Aktion bald eingestellt werden kann. Im Indira- Gandhi- Krankenhaus hatten die Inder ebenfalls einen Einheitslohn ausgezahlt, und die Franzosen hatten angekündigt, daß sie das Aliabad- Krankenhaus fördern wollten. Das Aliabad-Krankenhaus war das Universitäts- Krankenhaus, und Frankreich hatte die medizinische Fakultät aufgebaut. Jetzt wollte man sich also wieder engagieren. Die Versprechungen und einmaligen Hilfsleistungen wurden gemacht, als es in Afghanistan vor Journalisten wimmelte. Inzwischen ebbt diese Flut ab. Vermutlich werden Franzosen und Inder sich irgendwann dauerhaft engagieren. Im Augenblick ist aber die Versorgung der Krankenhäuser nicht besser als in den letzten Tagen der Taliban. 

Mit Mitteln des Freundeskreises Afghanistan wird momentan ein Programm durchgeführt, bei dem den Bewohnern von Wohnungen, die durch Bombenabwürfe Glasschäden erlitten haben, neue Fensterscheiben zur Verfügung gestellt werden. 

Für Krankenhäuser und Fensterscheiben benötigen wir  weitere Mittel und möchten bei der Gelegenheit noch einmal auf das Konto von OFARIN e.V. hinweisen: 
Nummer 360 104 418 bei der Sparkasse Mainfranken Würzburg (BLZ 790 500 00). 

Das schleppende Anlaufen der internationalen Unterstützung macht es wahrscheinlich, daß wir die Dienste unserer Kabuler Moschee-Schulen auch noch in diesem Jahr anbieten werden - zumindest einige Monate lang, bis der Normalbetrieb auch der staatlichen Mädchenschulen wieder angelaufen ist. Da OFARIN fest entschlossen ist, auch weiterhin im Erziehungsbereich zu arbeiten, führen wir derzeit unsere Maßnahmen zur Verbesserung des Mathematik- Unterrichtes durch. In zwei Kabuler Moscheen wurden je drei Anfängerklassen gebildet, in denen verstärkt Mathematikunterricht nach unseren frisch ausgearbeiteten Richtlinien gegeben wird.
Wir wollen jetzt, während der Winterferien, Erfahrungen sammeln. Es wurden auch Beziehungen zu einer Organisation aufgenommen, die intensive Alphabetisierungskurse in den Landessprachen entwickelt und durchgeführt hat. 

Vermutlich werden wir unsere Fähigkeiten, die sich besonders für die Erwachsenenbildung anbieten, nicht auf Frauen und Mädchen in den Städten anwenden. Hier gibt es Bedarf an Erwachsenenbildung, da die Mädchenschulen jahrelang geschlossen waren. Aber auf das Gebiet der Bildung von Frauen und Mädchen drängen sehr viele Hilfsorganisationen. Jede sucht nach zahlenmäßigen Erfolgen, die sie zu Hause verkünden kann. Es besteht die Gefahr, daß man die Bevölkerung provoziert. 
OFARIN wird sich auf dem Gebiet der Erwachsenenbildung eher um ehemalige Milizionäre kümmern, um denen eine zivile Perspektive zu bieten.
Außerdem wollen wir uns auf dem Land um Schulen für Jungen und Mädchen kümmern und dort diese erzieherische Arbeit mit der wirtschaftlichen Entwicklung der Gegend kombinieren. Die große Hilfswelle des Auslandes dürfte vor allem in den Städten wirksam werden. Es werden genug ländliche Gegenden bleiben, in denen man sinnvoll arbeiten kann. 

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11. - 16.12.2001:
Reise nach Kabul
Unermessliche Hilfsgüter werden sich über das Land ergießen und schwere Schäden anrichten
Randersacker, den 18.12.2001 - Die Reise nach Kabul liegt hinter mir. Am Dienstagvormittag, dem 11.12., traf ich in Baghram, vielleicht 50 km nördlich von Kabul, ein. Die Rollbahn des Kabuler Flugplatzes war von einer Bombe getroffen worden, die jetzt einige Meter tief als Blindgänger in der Erde steckt. 

Bart und Schleier beherrschen das Straßenbild nach wie vor

In Kabul erkannte der erste Blick wenig Veränderungen. Erst am vierten Tag sah ich eine Frau, die ihr Gesicht nicht verschleiert hatte. Alle Männer trugen Bärte, allerdings meist wohlgetrimmte. Musik hörte man selten. Das lag wohl tagsüber am Ramadan und abends an der Kälte um den Gefrierpunkt herum. Immerhin bieten schon einige Kinos Vorstellungen, und die kleinen eisenverarbeitenden Betriebe in unserer Straße, die sonst vornehmlich Wasserpumpen zusammenschweißten, haben sich alle auf den Bau von Satellitenschüsseln für das Fernsehen umgestellt. 

In unserem Büro hörte ich Gründe für die schleppende Entfernung der Bärte: Auf der Straße von Kabul nach Jalalabad, so erzählt man sich, hätte man sechs afghanischen Reisenden, die sich ihre Bärte ganz entfernt hatten, Nasen und Ohren abgeschnitten. In Sarobi werden weiterhin die Fahrzeuge angehalten und es wird überprüft, ob jeder einen taliban- islamischen Bart trägt. Hinzu kommen die Morde an vier westlichen Journalisten, die diese Strecke befuhren. Man rätselt, was auf das Konto versprengter Araber und was auf das von Afghanen aus der Gegend geht, denen die Weisheiten der Taliban ans Herz gewachsen sind. Männer halten es für unehrenhaft, die Bärte schnell abzunehmen, seitdem das wieder möglich ist. Dadurch würde man zugeben, daß man sich bisher dazu hat zwingen lassen, einen Bart zu tragen. 

Ein Versuch der frisch ernannten Gesundheitsministerin Dr.Suheila Siddiqi, den Beginn der neuen Zeit zu erzwingen, brachte keinen vollen Erfolg. Die Ministerin hatte bisher ein Kabuler Krankenhaus geleitet. Sie lud alle Mitarbeiterinnen ihres ehemaligen Arbeitsplatzes in ihr Ministerium ein. Etwa fünfzig Damen erschienen - alle verschleiert. Die Ministerin forderte dazu auf, die Schleier abzulegen. Die Frauen weigerten sich. Die Ministerin erklärte, daß jede, die den Schleier ablege, 50 $ erhielte. Das Argument überzeugte. Zögernd folgten die Frauen jetzt dem Wunsch der Ministerin. Nun forderte diese die Besucherinnen auf, unverschleiert in die Vorhalle zu treten, wo das Geld ausgezahlt werde. Sie taten es. Doch statt des Kassenwartes erschien dort ein
Rudel Journalisten und begann begierig, die unverschleierten afghanische Frauen zu photografieren. Die Szene endete in Protesten und Tumult. 

Die Zukunft hat noch nicht begonnen

Der Einreisende sieht Afghanistan so, als seien die Machtübernahme durch die bereits aufgestellte Übergangsregierung und die beschlossene Stationierung der UN-Truppen schon erfolgt. Für ihn hat die Zukunft schon begonnen. Für diejenigen, die die letzten Wochen in Kabul verbracht hatten, zählt die Gegenwart. Die Taliban sind vertrieben. Schön! Aber eine ziemlich undisziplinierte Soldateska hat die Stadt besetzt. Übergriffe auf Frauen gab es noch keine. Aber geplündert wurde häufig. Verschiedene Warlords haben sich noch nicht mit den Verhandlungs- Ergebnissen vom Petersberg abgefunden. Kein Wunder, daß man sich in Kabul noch nicht auf das einstellt, was hoffentlich kommt. 

Westliche Präsenz erwünscht

Der Wechsel, der jetzt stattfinden soll, wird einhellig begrüßt. Alle wünschen, daß die politische Entwicklung ihres Landes in der nächsten Zeit eng von den Westmächten geführt wird. Das schließt eine ausreichende militärische Präsenz ein. Nach dem langen Bürgerkrieg ist das gegenseitige Mißtrauen so groß, daß kein Afghane von der Mehrheit seiner Landsleute als höchste Instanz hingenommen würde. Man unterstellt jedem Afghanen, daß er doch nur für seinen Stamm oder allenfalls für sein Volk sorgen wird. Eine Ausnahme davon bildet der König, der sich aber nicht um die Macht in dieser vorläufigen Regierung beworben hat. Einer ausländischen Instanz unterstellt man bis zum Beweis des Gegenteils, daß sie keine afghanische Gruppierung begünstigen will und daß sie keine eigenen Interessen verfolgt. Die Westmächte werden Fingerspitzengefühl aufbringen müssen. 

Die afghanischen Kollegen sind noch voll der Ereignisse der jüngsten Zeit. Faruq, der selbst ein größerer Kommandant war, ist erschüttert über den Tod seines persönlichen Freundes Abdul Haq, der die Paschtunen gegen die Taliban mobilisieren wollte, aber gefangen und hingerichtet wurde. Abdul Haq habe allerdings auch schwere Fehler bei seinem Vorstoß nach Afghanistan gemacht. Das konnte nicht gut gehen. 

"Treffsicherheit" amerikanischer Bomber bietet Anlass zur Legendenbildung

Die Bombardierungen der Amerikaner seien insgesamt sehr erfolgreich gewesen. Die Fehlerquote war nicht null. Aber die Afghanen äußern ihre Bewunderung für die Präzision mit der die Piloten in der Regel trafen. Dabei wurde aus so großer Höhe bombardiert, daß die Flugzeuge kaum erkennbar waren. Die Amerikaner hätten genau gewußt, wo Stützpunkte der Taliban waren, ja sogar, wo Prominente wohnten. Es wird berichtet, daß es der Nordallianz gelungen sei, ein System von Satellitentelefonen zu etablieren, über das Bombenziele durchgegeben worden seien. Meine Kollegen haben bei ihren harmlosen Telefonaten mit uns in Deutschland Kopf und Kragen riskiert. 

Eine oft erzählte Geschichte illustriert die Haltung vieler Kabuler gegenüber den Bombardements, obwohl der gesunde Menschenverstand sagt, daß es sich um eine Legende handeln muß: In einem Haus hatten sich Taliban versammelt und ein Flugzeug flog an. Vor dem Haus fuhr ein Radfahrer vorbei. Das Flugzeug drehte ab und kam kurz darauf wieder. Der Radfahrer war noch in der Nähe des Hauses. Das Flugzeug drehte abermals ab. Als es das dritte Mal kam, war der Radfahrer schon ein Stück weg. Jetzt warf das Flugzeug seine Bombe ab und töte alle Taliban, ohne daß eine Scheibe zerbrochen sei.

Ein Minister auf der Suche nach einem Nachtquartier

Da solche Präzision nicht immer ganz sicher war, zogen die Menschen aus der Umgebung von Polizeistationen oder Kasernen weg, während die Taliban versuchten, sich "unters Volk" zu mischen. Der Minister für öffentliche Arbeiten ließ mehrfach durch einen hohen Beamten nachfragen, ob denn der Minister nicht die Nächte in unserem Büro verbringen dürfe. Man habe dem entgegengehalten, daß die Leitung von OFARIN so etwas strikt untersagt habe. Schließlich habe einer der OFARIN-Mitarbeiter angeboten, daß der Minister bei ihm zu Hause übernachten könne. Unser Mitarbeiter hatte seine Familie aufs Land evakuiert, so daß reichlich Platz in seinem Haus war. Der Beamte besichtigte die Unterkunft und entschied, daß sie für einen Minister unangemessen sei. 

Den Einfluss bin Ladens unterschätzt

Alle meine Kollegen haben - wie auch ich - den Einfluß, den Osama bin Laden auf die Talibanbewegung hatte, weit unterschätzt. Um so mehr sind sie glücklich über das Ende dieses Regimes. 

Vom Fluch der großen Hilfe

In die geschäftlichen Dinge zieht die neue Zeit schon ein. Unser Hauswirt ließ uns mitteilen, daß die Miete unseres Büroanwesens von 300 $ auf 1200 $ erhöht wird. Später traf ich den Korrespondenten einer großen amerikanischen Zeitung. Er ist schon einige Wochen in Afghanistan und hat sich mit einigen Kollegen ein Haus gemietet, für das sie monatlich 2500 $ zahlen. Seitdem sehe ich unseren Hauswirt in milderem Licht. 

Schon auf dem Flugplatz Baghram hatte ich mehrere deutsche Kollegen getroffen, die dorthin gekommen waren, um Mitglieder ihrer Organisationen oder Hilfsgüter abzuholen. Jeder sprach gleich nach der Begrüßung sehr beklommen über die unermeßlichen Hilfsmittel, die sich über das arme Land ergießen werden. Wir alle sind sicher, daß dieser Segen schwere Schäden anrichten wird. Wer hat herausgefunden, wieviel Milliarden Dollar jetzt für Afghanistan nötig sind? Und wer soll dieses Geld sinnvoll ausgeben? Schon streben aus allen Richtungen die Repräsentanten immer neuer Organisationen herbei. Bei vielen fragt man sich, inwieweit ihre Landeskunde über die Gewißheit hinausgeht, daß viel Geld für Afghanistan bewilligt werden wird. Alle wollen ein Büro eröffnen. Bisher treiben diese Neulinge nur die Mieten hoch. Bald werden sie die Löhne der Hilfsorganisationen aus allen Fugen hebeln. Eine muntere Kopfjägerei wird einsetzen. Alle ehemalige Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, die wegen einschlägiger Delikte entlassen wurden, werden wieder irgendwo eingestellt werden. Betrug, Unterschlagung und Korruption werden blühen. 

Schließlich wird der Kampf um die Projekte einsetzen. Wenn irgendeine Organisation irgendwo eine gute Arbeit leistet, erzielt eine anderes Hilfskomitee am schnellsten "Erfolge", indem es die Arbeit der ersten Organisation kopiert. Wenn die erste Organisation z.B. ein zerstörtes Dorf wiederaufbauen will, indem sie jeder Familie zwei Räume hinstellt und dann dieser Familie den weiteren Aufbau ihrer Wohnanlage überläßt, wird das zweite Komitee den Menschen den Aufbau von drei oder vier Räumen anbieten. So kann es der ersten Organisation das Projekt abnehmen und der eigenen Zentrale einen schnellen Mittelabfluß melden. Es wird nicht mehr möglich sein, von den Menschen, denen da geholfen werden soll, einen Eigenbeitrag zum Projekt zu verlangen. Ein solcher ist aber ganz entscheidend für den Erfolg von Entwicklungs- Programmen. In der Entwicklungshilfe war es stets ein Fehler, sofort ein Programm in voller Größe zu beginnen. Alle Aktivitäten müssen klein anfangen und allmählich wachsen. In Afghanistan sollte kein Programm eine gewisse Größe überschreiten. Alle solche Erfahrungen spielen jetzt keine Rolle. Der Umsatz wird das Maß aller Dinge sein.
Das Wohlergehen der afghanischen Bevölkerung bleibt allenfalls ein Vorwand. 

Fehler der Politik

Es besteht kein Zweifel daran, daß in Afghanistan einige Hilfsorganisationen mehr arbeiten müssen als bisher, um am Wiederaufbau teilzunehmen. Auch kann man von den Neulingen fairerweise keine vollständigen Landeskenntnisse erwarten. Aber die Politik hat mit der Ankündigung großer Programme und der Nennung von bis zu zehn Milliarden Dollar Afghanistanhilfe eine böse Goldgräberstimmung erzeugt. Mit solchen Sprüchen sollte die Bevölkerung des Westens, der die Bombardements Kopfschmerzen bereiteten, beschwichtigt werden.

Afghanistan hätte mehr Zurückhaltung viel besser getan, und den Finanzen der westlichen Länder hätte sie ebenfalls nicht geschadet.. Mit einem Bruchteil der angekündigten Mittel hätte man dann viel mehr erreichen können, sofern dieses Geld vorsichtig eingesetzt wird und kontinuierlich fließt. Aber und darin waren sich alle "Alteingessenen", die sich da auf dem Flugplatz trafen, sicher: das Geld wird keineswegs kontiunierlich fließen: Es wird in den nächsten Monaten wie die Sintflut über Afghanistan hereinbrechen. Aber bald nachdem sich die politische Lage beruhigt hat und die Fernsehreporter Afghanistan verlassen haben, wird nur noch ein dürftiges Bächlein rinnen. So trösteten wir uns in Baghram mit der Hoffnung auf diese "Zeit danach". 

Zum Beispiel: 
Wann werden die gnadenlosen Mehlgeschenke des Westens an die Entwicklungsländer endlich eingestellt? 

Die Nothilfeaktion des Word Food Programmes hatte Kabul schon erreicht. Die UNO hatte schon während der Bombardements der Amerikaner sehr hohe Zahlen von Afghanen genannt, die vor dem Hungertod stehen. Einige Politiker forderten daraufhin sogar, den Krieg gegen die Taliban und ihre Verbündeten zu unterbrechen, um Mehl nach Afghanistan transportieren zu können. Andere Politiker, die das ablehnten, hatten es schwer, für ihre meist militärischen Argumente Verständnis zu finden. Auf die naheliegende Idee, die Phantasiezahlen der UNO anzuzweifeln, kam keiner. Sicher, Afghanistan steckt immer noch in einer schweren Dürre, und ich will nicht behaupten, daß niemand Hunger leidet. Aber die Angaben, die die UNO gemacht hat, entbehrten, wie sehr viele ihrer Statistiken, jeden Bezug zur Wirklichkeit. 

Die Verteilung des UN-Segens es handelt sich nur um ungemahlenes Weizengetreide - wurde Hilfsorganisationen übertragen. Deren ausländische Führungskräfte waren meist noch nicht nach Afghanistan zurückgekehrt. Die Hilfsorganisationen suchten willkürlich Berechtigte aus und verteilten an diese Bezugsscheine. Sehr viele Notleidende gingen leer aus. Ein ganz erheblicher Teil des Getreides wurde veruntreut und verkauft. Folglich hatten die Inhaber der Bezugsscheine Angst, daß für sie nichts mehr übrig sei, als der Weizen ausgeteilt wurde. Es gab unkalkulierbare Gedränge. Zwei Frauen wurden zu Tode getreten. 
Andere Bezugsberechtigte reagierten gelassener auf das Unterangebot an Getreide. Sie verkauften ihre Bezugsscheine. Diese wurden in vielen Geschäften und sogar in Taxis gehandelt. 

Aber auch wenn ein Teil des Getreides nicht umsonst an die Verbraucher gelangte, hat die Aktion eine Wirkung auf den Preis, die den Verbrauchern zu Gute kommt. Während im Verlauf der letzten zwölf Monate die Preise für die meisten Nahrungsmittel leicht gestiegen sind, ist der Getreidepreis von 90 000 Afghani pro 7 kg auf 30 000 Afghani gefallen. Ein befreundeter Landwirt mußte einen großen Aufwand treiben, damit er seinen Weizen trotz der Dürre ernten konnte. Jetzt kann er das Getreide nicht verkaufen. Die Bauern müssen für die UN-Beschenkungen büßen. Die allermeisten Afghanen sind aber Bauern. Wann werden die gnadenlosen Mehlgeschenke des Westens an die Entwicklungsländer endlich eingestellt? 

Zu OFAEIN:

Die Notlohnzahlungen an die Krankenhäuser, die CPHA und OFARIN begonnen hatten, erfordern Flexibilität. Ehemalige Unterstützer der Krankenhäuser übernehmen wieder ihre alten Verpflichtungen. Wenn wir in solchen Krankenhäusern Notlöhne gezahlt haben, beenden wir diese Hilfe und wenden uns Krankenhäusern zu, denen noch niemand unter die Arme greift. Es ist sehr sinnvoll, jetzt zu Winterbeginn Glasscheiben, die bei den Bombardements zerborsten sind, zu ersetzen. Doch stehen derzeit wegen der Verpflichtungen gegenüber den Krankenhäusern kaum Mittel zur Verfügung. 

Als Radio Kabul neulich ankündigte, daß Rußland das Personal der Universität versorgen werde, erreichte es das Niveau der Kollegen aus Iriwan. Alle Professoren und Angestellten der Universität mußten sich tags darauf ab zehn Uhr bereithalten. Um zwei Uhr war es dann soweit: Ein Kleinlaster fuhr vor, beladen mit 700 kg Reis und 50 kg Süßigkeiten. Das sollten sich die knapp 800 Universitäts- Angehörigen teilen. 

Rückfahrt und das Gesicht des Krieges

Am Sonntag, dem 16.12., fuhren wir wieder durch das Schomali nach Baghram. Das Schomali war 1999 von den Taliban mit Gewalt entvölkert worden war, weil es die mehrheitlich tadschikischen Bewohner - rund 400000 Menschen - immer wieder mit der Nordallianz gehalten hatten. Die Obst- und Weingärten wurden mit Chemikalien, Feuer und Sägen zerstört. Die unterirdischen Bewässerungs- Anlagen wurden gesprengt. Die verlassenen Häuser haben alle keine Dächer mehr. 

In Baghram holte uns ein Airbus ab, den die Organisation "Friedensdorf International" gechartert hatte. Mit uns wurden gut 30 Kinder zur medizinischen Behandlung nach Deutschland geflogen. In Baghram gibt es keine Treppe über die man den Airbus erreichen kann. Amerikanische  Sanitäts- Soldaten hoben die Kinder mit Hilfe eines Gabelstaplers auf das Dach eines LKWs. Von dort wurden sie zum Eingang des Flugzeug hochgestemmt. 
Die martialisch aufgemachten US-boys machten keinen Hehl aus ihrer Erschütterung. Hier sahen alle, daß eben nicht nur die Taliban und die al Qaida den Krieg verloren haben. Einige der Kinder kamen aus der Umgebung von Tora Bora, wo man offenbar nicht bestimmte Ziele sondern die Fläche bombardiert hatte. Im Flugzeug wurden die Kinder in die Bestuhlung des Flugzeuges gesetzt und gelegt. Ein vielleicht zehnjährige Junge lag rücklings über drei Sitze gestreckt. Durch eine Mine hatte er sein Augenlicht, einen Fuß, die linke Hand und fast den ganzen rechten Arm verloren. Als alle etwas zu Essen bekamen, kniete eine Krankenschwester im Gang am Kopf des Jungen und hielt ihm einen Keks in den Mund von dem er langsam etwas abbiß. Die Frau schluckte immer wieder und Tränen standen ihr in den Augen. 

OFARIN wird auch in den nächsten Wochen regelmäßige Kontakte zu seinem Kabuler Büro halten. Da aber gegenwärtig in den Medien ausführlich über Afghanistan berichtet wird, werden ich die Nachrichten, die ich aus Kabul erhalte, nicht mehr mit der gleichen Regelmäßigkeit weitergeben. Nur wenn etwas Besonderes passiert, werde ich mich wieder an Sie alle wenden. Im Februar plane ich nach Afghanistan zu reisen. 

Mit freundlichen Grüßen, Peter Schwittek. 

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7.12.2001
Telefonkontakte mit Kabul und Peshawar - Reise wird doch möglich:
In Kabul ist die öffentliche Sicherheit brüchig
Liebe Freunde, 

in den letzten Tagen konnte ich nicht nur das Gespräch mit dem Kabuler Büro führen, sondern mich auch ausführlich mit drei Kabuler Kollegen unterhalten, die nach Peshawar gekommen waren, um mich dort zu treffen. Sie berichteten davon, dass zwei afghanische Reisende von Kabul nach Peshawar, die keine Bärte mehr trugen, unterwegs von Einheimischen geschlagen worden seien. Die ostafghanischen Bauern hatten die talibanischen Wahrheiten offenbar kräftig verinnerlicht.

Ein mir bekannter großer Kommandant aus der nordwestlichen Umgebung von Kabul, der einst zu den Taliban übergelaufen war, hatte sich rechtzeitig vor dem Vorstoß der Nordallianz auf Kabul nach Peshawar abgesetzt und harrt jetzt mit 15 seiner Leute der Dinge, die da kommen. In seiner Heimat ist der Machtübergang problemlos verlaufen. Es kam zu keinerlei Plünderungen oder Racheakten. 

In Kabul sind durch die Bombardierungen Gebäudeschäden entstanden. Das gilt besonders für die Gegend am Flugplatz. Die schweren Bomben haben in weitem Umkreis die Fensterscheiben zerstört. Das ist im Winter ein großes Problem. Es scheint sinnvoll, ein Fensterscheibenprogramm durchzuführen. Aber zuerst muss sich zeigen, wie die Situation in den Kabuler Krankenhäusern ist. Auf jeden Fall ist es eine große Erleichterung, dass der „Freundeskreis Afghanistan“ 5 000 $ für Nothilfeaktionen zur Verfügung gestellt hat. 

In der Stadt ist die öffentliche Sicherheit brüchig. Bewaffnete Banden, die irgendwie mit der Nordallianz verbunden sind, leisten sich immer neü Übergriffe. Die italienische Botschaft wurde bereits zweimal geplündert. Diese Konjunktur wird anhalten, bis die neue Regierung und die UN-Truppen nach Ramadan einziehen werden. Werden die eine Beruhigung erzielen können? Entsandte großer Hilfsorganisationen durchstreifen die Strassen von Kabul. Sie suchen nach attraktiven Häusern, die ihren Komitees als Büros dienen könnten. 

Reise nach Kabul doch noch möglich

Das „Friedensdorf International e,V.“ nimmt mich am Montag, dem 10.12, gegen einen Unkostenbeitrag mit seinem Lufttransport nach Kabul mit. Schon am 16.12. werde ich zurückkehren. Es ist sehr wichtig, dass ich aus eigener Anschauung die Nothilfeaktivitäten beobachten kann und einen Eindruck davon gewinne, was jetzt nötig und möglich ist. Vermutlich ist es zu früh, um schon jetzt zu entscheiden, wie unser zukünftiges Engagement bei langfristigen Programmen, etwa der Erziehung, aussehen kann. 
Sollte mein morgiges Gespräch mit dem Kabuler Büro keine wichtigen Nachrichten liefern, ist dies mein letzter Rundbrief vor meiner Reise. Wahrscheinlich werde ich am 17. oder 18. Dezember den nächsten Rundbrief verschicken. 

Mit freundlichen Grüssen, Peter Schwittek.
 

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3.12.2001
Die aktuelle Lage in den ersten Dezembertagen:
Kabul blickt auf den Petersberg
Randersacker, 3.12.2001 - Die Lage in Kabul ist ruhig. Alles starrt gespannt auf den Petersberg bei Bonn. Man nimmt beruhigt zur Kenntnis, dass die Westmaechte entschlossen dafuer sorgen, dass eine angemessene Uebergangsregierung zustande kommt.

Der afghanische Gespraechspartner am Telefon meinte, die Jamiat-Partei des jetzigen Praesidenten Rabbani habe laengst verstanden, dass es mit diesem Praesidenten nicht weitergehen kann. Das Problem sei nur, dass Rabbani das selber noch nicht verstanden habe. 
Der Partner am Telefon praezisierte auch Angaben ueber die Situation in den Provinzen: Dort haetten sich ueberall lokale Raete gebildet, die die Regierung in ihren Gebieten uebernommen haetten, bis die Lage in Kabul geklaert sei. Da seien viele Kommandanten der alten Parteien dabei, sogar Wuerdentraeger der Taliban. Man muesse diese Maenner allerdings als Mitglieder ihres jeweiligen Rates ansehen. Verbindungen zu den alten Parteien haetten sie dagegen kaum. 
Die Wiedereingliederung nicht belasteter, auch prominenter, Taliban stellt offenbar kein Problem dar. So war Hadschi Kalamuddin einst Minister fuer die schreckliche Religionspolizei (Ab'r Maruf). Spaeter hat er sich als zweiter stellvertretender Minister fuer Islamische Angelegenheiten sehr um die Absicherung unserer Moschee- Schulen verdient gemacht. Zuletzt wurde er Praesident des Nationalen Olympischen Komitees. Jetzt ist er in seine Heimat Logar zurueckgekehrt und lebt dort unbehelligt. Ehemalige Taliban, die nicht ganz so einflussreich waren, kann man sogar in Kabul antreffen. Allerdings tragen sie keine grossen Turbane mehr, sondern die Muetzen der Kaempfer gegen die Sowjets. 

Doch nicht allen sei der Rueckzug aus Kabul gelungen. So habe Jalaluddin Haqqani, ein ehemals grosser Kommandant aus Khost und zeitweiliger Parteigaenger der Taliban, eine Gruppe von prominenten Taliban und arabischen Unterstuetzern zu sich eingeladen. Diese Gruppe sei von den Amerikanern bombardiert worden. Ein Teil dieser Leute sei umgekommen, unter anderem Qari din Mohammad, der Planungsminister der Taliban, ein Tadschike aus Badakhschan, der als vernuenftig und gemaessigt galt und allgemein geschaetzt wurde. 

Noch hält sich der König zurück

Ein afghanischer Freund haelt sich am Rande der Konferenz am Petersberg auf. Er rief hier an und berichtete, dass die UN und die Westmaechte die Konferenz recht eng fuehrten. Er war optimistisch hinsichtlich der Erfolgsaussichten. Ich fragte ihn, warum der Koenig bei der bisherigen Personaldebatte nicht erwaehnt werde. Dazu meinte er, der Koenig koenne sich wegen dieser provisorischen Regierung nicht exponieren. Er werde erst in den Ring steigen, wenn es um die Bildung der eigentlichen Regierung gehe. Wenn er sich jetzt schon an den Auseinandersetzungen um die Uebergangsregierung beteilige, bestehe die Gefahr, dass er beschaedigt wird und dann bei der Auseinandersetzung um die weitere Zukunft keine starke Rolle mehr spielen koenne. 

Reisen nach Pakistan erschwert

Am Freitagnachmittag informierte mich die Agentur, die mein Visum fuer die Reise nach Pakistan besorgen sollte, darueber, dass es diese Woche nichts mehr mit dem Visum werde. Die Erteilungsprozeduren der Pakistaner haetten sich sehr verlangsamt. Das pakistanische Konsulat in Frankfurt teilte mit, dass die Mitte des Jahres eingefuehrte Moeglichkeit, Inhabern deutscher Reisepaesse Touristenvisa bei der Einreise nach Pakistan zu erteilen, wieder abgeschafft worden sei.
Damit konnte ich meinen Flug nach Peschawar am 3.12. nicht
antreten. Aber auch eine Verschiebung des Abfluges war unmöglich, da alle Fluege inzwischen ausgebucht waren, vermutlich wegen des Festes am Ende des Ramadan :16.12.. So werde ich dieses Jahr nicht mehr nach Pakistan reisen. Drei Kabuler Kollegen, die ich gebeten hatte, nach Peschawar zu kommen, um mit mir ueber die Lage zu sprechen, hatten sich schon auf den Weg gemacht, als ich dem Kabuler Buero am Sonntag das Scheitern meiner Plaene mitteilen musste. 

Die Situation der Krankenhäuser

Die Versorgung der Krankenhaeuser durch die Organisation CPHA von Karla Schefter bzw. durch OFARIN ist noch nicht endgueltig geklaert, da das ICRC (Internationales Rotes Kreuz) plant, auf diesem Gebiet wieder Verantwortung zu uebernehmen. 

Das ICRC will wieder Krankenhaeuser unterstuetzen, die es frueher unterstuetzt hatte. Im Augenblick sind die aber noch  unversorgt. Auch will es wohl weitere Krankenhaeuser
mitfinanzieren, die bisher unversorgt sind. Darueber hinaus planen andere Geldgeber, sich fuer Kabuler Krankenhaeuser einzusetzen, so etwa die Inder im Indira-Gandhi- Krankenhaus. All das findet aber noch nicht statt, und die Not ist jetzt gross. Und sobald man ein Geruecht erfaehrt, dass ein grosser Geldgeber sich in einem bestimmten Krankenhaus engagieren will, wird man auf ein anderes Krankenhaus verwiesen, das unversorgt ist. Die Mitarbeiter von OFARIN und CPHA werden flexibel sein muessen.
Kleine Organisationen sind ja dazu in der Lage. 
Es ist keine Frage, dass das Geld, das Sie fuer die Versorgung von Krankenhaeusern aufgebracht haben, benoetigt werden wird. 

Ein Kollege, der aus Yakaolang im Hazaradschat stammt, wollte im September seine Heimat besuchen, um nach
seinen Feldern zu sehen. Er erhielt dafuer Urlaub aber auch den Auftrag, nach Lal und Bamian zu reisen, um sich nach dem Zustand der Kliniken von LEPCO zu erkundigen und um die vom "Freundeskreis Afghanistan e.V." finanzierten Schulen in Lal zu besuchen. Als er von den Ereignissen am 11.9. erfuhr, kehrte er nicht nach Kabul zurueck und fand sich erst jetzt wieder im Buero ein. Er hatte noch die Lehrer von Lal aufgefordert, ihre Lohngelder aus unserem Kabuler Buero abzuholen, was diese auch taten. Die Schulen in Lal arbeiteten waehrend seines Besuches normal. Ueber die LEPCO-Kliniken berichtete er nichts Neues. Der Gebaeudekomplex in Bamian, der noch nicht in Betrieb genommen worden war, da die Taliban seit der Zerstörung der Buddhas keine Ausländer nach Bamian reisen ließen, ist intakt. Die Klinik in Lal arbeitet normal. Die Klinik in Yakaolang war geschlossen worden, nachdem die Taliban im Fruehjahr 2001 in diesem Bezirk schwere Massaker veruebt und die Mehrheit der Bevoelkerung zur Flucht veranlasst hatten. Der Leiter der Klinik bereist den Bezirk weiter und schickt die Patienten zur Behandlung in die LEPCO-Klinik von Pandschao. 

Inzwischen sind auch unsere Kollegen aus Kabul in Peschawar eingetroffen. Sie brauchten fuer die Strecke von
280 km anderthalb Tage, da sie die Grenze auf Schleichwegen ueberschreiten mussten. Auch sie hoffen, dass die Westmaechte die UNO dabei unterstuetzen werden, Afghanistan bei der Aufstellung einer neuen Regierung zu helfen. Sie meinten, es sei dringend noetig, dass die Westmaechte voruebergehend UN-Truppen in Kabul stationierten, um diesen Prozeß abzusichern. 

Die Kollegen werden mich morgen wieder anrufen, um mich ueber ihre Ideen fuer die zukuenftige Arbeit von OFARIN zu informieren und um zu erläutern, wo sie in der gegenwaertigen Situation Notwendigkeiten fuer uns sehen, zu intervenieren. 

In Kabul sind bisher noch keine Niederschlaege gefallen. 

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