Berichte vom Hindukusch

Inhalt:
Überblick über die Arbeit von OFARIN im Januar 2003
Überblick über die Arbeit von LEPCO im Januar 2003

Alltag in Kabul 2002:
Der Consultant
Die Staatssekretärin
Auf dem Lande:
Beim Malik
Situationsbericht aus Kabul Anfang 2003:
   Politische Stabilität und Wirtschaft in Afghanistans bedingen einander




Überblick über die Arbeit von OFARIN im Januar 2003:
Die Arbeit in den Moscheeschulen steht im Mittelpunkt
- Ministerium für Islamische Angelegenheiten liberaler als Erziehungsminiterium -
- von Peter Schwittek -

Moschee-Schulen in Kabul
Kabul, den 19.1.2002 - Das Moschee- Schulprogramm von OFARIN ist dieses Jahr noch durch eine Zusage des Deutschen Caritasverbandes von 100 000 DM abgesichert. Das Programm bietet Unterricht der Jahrgangsstufen eins bis sechs in zehn verschiedenen Kabuler Moscheen an. Der wird von 3000 bis 4000 Kindern besucht. Seit Oktober 2002 finden nur noch je zwei Unterrichtsstunden am frühen Morgen (je nach Jahreszeit ab 5:00 Uhr, 6:00 Uhr oder 6:30 Uhr) statt. Wegen der geringen Stundenzahl haben wir uns auf die Fächer Persisch, Mathematik und Religion beschränkt. Diese Umstellung zielt darauf ab, die Kinder armer Familien zu erreichen. Viele dieser Kinder müssen tagsüber betteln, Schuhe putzen und dergleichen. Sie sind schon am Vormittag beschäftigt und können nicht in staatliche Schulen gehen. Außerdem wird der Unterricht in den Moschee- Schulen von Mädchen besucht, deren Eltern ihre Töchter aus pseudo- religiösen Gründen nicht in staatliche Schulen schicken. Das sind die Gruppen, die wir erreichen wollen. Nur durch ein Programm wie das unsere können sie eine Grundalphabetisierung erhalten. Das Ministerium für Islamische Angelegenheiten hatte uns gedrängt, um dieser Kinder willen das Moschee- Schul- Programm fortzuführen.

Darüber hinaus kommen Kinder, die merken, daß der Unterricht in den staatlichen Schulen unzureichend ist. Wegen unregelmäßiger und mangelnder Bezahlung der Lehrer fällt dort der Unterricht oft aus. Dagegen achtet OFARIN streng auf die Anwesenheit seiner Lehrer. Hinsichtlich der Unterrichtsmethodik bestehen auch bei uns durchaus noch Verbesserungs- Möglichkeiten. Unsere Lehrer sind meist ausgebildete Schulmeister, die ab 8:00 Uhr in staatlichen Schulen arbeiten. Wir zahlen jeder Lehrkraft pro Monat 1000 Rs., was knapp 16 € entspricht. Bis September hatten wir außerdem zwei Stunden Nachmittagsunterricht angeboten. Das wurde jetzt, da viel mehr Kinder – und vor allem die Mädchen – wieder in staatliche Schulen gingen, problematisch. Es kamen nachmittags in die gleichen Klassen andere Kinder als frühmorgens. Kinder die Betteln müssen, haben nachmittags keine Zeit. Die Lehrer standen vor unlösbaren Problemen. 

Die finanzielle Ausstattung des Programmes reicht für das Nötigste. Es wäre sehr wünschenswert gewesen, im Winter ein gesondertes Programm in den gleichen Moscheen anzubieten. Die Winterzeit läßt den Kindern nur wenige Möglichkeiten, außerhalb des Hauses zu spielen. Viele Eltern hätten ihre Kinder gerne in einen ergänzenden Unterricht geschickt. So aber ruht jetzt der Unterrichtsbetrieb und wird im April wieder aufgenommen werden.

Die Moschee-Schulen in Logar

Traditionell werden mit den DCV-Mitteln auch mehrere Moschee-Schulen in dem Dorf Saghumkhel in der Provinz Logar finanziert. Hier besuchen 600 Mädchen und Jungen den Unterricht, der wie in Kabul frühmorgens, aber außerdem am Nachmittag stattfindet. Die Lehrer erhalten dafür monatlich 1200 Rs (knapp 20 €). Auch auf dem Land ist ein Winterschulprogramm sehr erwünscht. Auch hierzu fehlen die nötigen Mittel. Nach dem Frühlingsanfang wird der Unterricht bis zur vierten Jahrgangsklasse wieder aufgenommen. 

Früher hatte Saghumkhel überhaupt keine Schule. Einige Jungen liefen in die größeren Orte Baraki-e- Radschan und Baraki-e- Barak, wo es sogar Gymnasien gibt. Mädchenschulen waren verpönt. Jetzt ist das ganze Dorf froh, daß Jungen und Mädchen in die Schule gehen.
 
 

Die Waisenschule in Chak-e-Wardak

Mit Mitteln der Organisation CPHA (Krankenhaus in Chak-e-Wardak, das von Karla Schefter geleitet wird) können wir seit 2002 Schulen im Bezirk Chak-e-Wardak (Provinz Wardak) – aber auch nur in diesem Bezirk – unterstützen. Das Kernstück ist eine Waisenschule in Langar. Sie wurde im vergangenen Jahr von 270 Waisen und 85 externen Schülern (alles Jungen) der Jahrgansstufen eins bis neun besucht. Die Waisen sind in der Schule untergebracht und werden dort verpflegt. Das macht die Schule um ein Vielfaches teurer als eine normale Schule. Eine Aufstockung der Schule bis zur zwölften Klasse wurde beschlossen. Im Jahr 2003 werden eine zehnte und eine elfte Klasse hinzukommen. Die Anzahl der Schüler wird steigen. Da sich die Waisen auch nachmittags in der Schule aufhalten, bietet es sich an, einen Schulgarten und Bienenstöcke anzulegen und sie von den Jungen bearbeiten zu lassen. Das soll auch zur Verpflegung der Kinder beitragen. Im letzten Jahr wurden dafür insofern Voraussetzungen geschaffen, als mit Mitteln der Deutschen Botschaft in Kabul ein Brunnen angelegt wurde, der reichlich Wasser liefert. Es wird daran gedacht, für Jugendliche, die die neunte Klasse absolviert haben und eher praktisch begabt sind, eine Berufsausbildung einzurichten. Die Waisenschule birgt sehr viele Möglichkeiten in sich. Sie könnte Anstöße zur wirtschaftlichen Fortentwicklung der gesamten Provinz Wardak liefern. Zu solchen Hoffnungen berechtigt die sehr engagierte Lehrerschaft sowie die großzügige Förderung durch CPHA. 

Auch die Waisenschule hat zur Zeit Winterferien. Neun der Lehrer sind nach Kabul gekommen, wo wir sie auf die Arbeit in der Oberstufe vorbereiten. Sie erhalten Unterricht in Paschtu, Persisch, Englisch, Mathematik, Physik und Chemie – größtenteils von Universitätsdozenten. Die meisten Lehrer haben eine Qualifikation für den Unterricht in der Oberstufe. Es fehlt ihnen aber die Unterrichtspraxis in den höheren Klassen. 

Kleine Mädchenschulen in Chak-e-Wardak

Im Jahre 2003 wollen wir mit Mitteln von CPHA auch fünf kleine Dorfschulen in Chak-e-Wardak unterstützen, die fast alle nur von Mädchen bis zur zweiten Jahrgangsstufe besucht werden. Diese Schulen wurden von der Bevölkerung in Eigeninitiative gegründet. Hier unterrichten teils Lehrerinnen, teils Lehrer. Als administrative Basis kann die Waisenschule dienen. Die Lehrer und Lehrerinnen wollen wir fortbilden, um ihren Unterricht zu verbessern. Dem Ausbau dieser Schulen für Mädchen sind Grenzen gesetzt. Mädchen können ihre kleinen Dörfer kaum verlassen. Daher ist es den Begabten unter ihnen unmöglich, ein Gymnasium zu besuchen, das in einem anderen Ort liegt. Wir hoffen bei der Zusammenarbeit mit diesen Schulen, Möglichkeiten für die Weiterbildung der Mädchen zu entdecken.
 
 

Das „Programm für junge Mädchen“

Zur Zeit der Taliban konnten Mädchen keine staatlichen Schulen besuchen. Für sie gab es in Städten wie Kabul – abgesehen von dem Moschee-Schul-Programm von OFARIN in Kabul – nur „illegales“ Homeschooling. Viele Mädchen mußten nach dem Einmarsch der Taliban im Jahre 1996 ihre Schulkarrieren aufgeben. Erst 2002 öffneten sich wieder die Tore der staatlichen Mädchenschulen. Aber diejenigen, die 1996 die zweite Klasse besucht hatten und nun 14 Jahre alt waren, durften sich nicht wieder in die zweite Klasse setzen. Sie waren zu alt. Das Ministerium für Islamische Angelegenheiten hatte OFARIN schon lange gedrängt, ein Programm durchzuführen, um solchen Mädchen noch möglichst viel Schulbildung zu vermitteln.

Im Oktober und November 2002 stellte das Fotoforum Frankfurt im Frankfurter Architekturmuseum Fotografien aus, die der renommierte englische Künstler Simon Norfolk im Winter 2001/2002 in Afghanistan aufgenommen hatte. Am Ende der Ausstellung wurden die Bilder meistbietend verkauft. Der Gewinn von 12 000 € ging an OFARIN. Das war die Grundlage für ein Programm für Mädchen mit unterbrochener Schulkarriere. Wir gehen davon aus, daß der Betrieb einer Schulklasse (12 Monate, ohne Winterpause) mit 25 Schülerinnen 1250 € pro Jahr kostet. Weitere namhafte Beträge eines Gymnasiums in Kaufbeuren und eines Gymnasiums in Kirchheim bei München kamen hinzu. Wir haben ein Programm für Mädchen der Jahrgangsstufen eins bis drei begonnen. Wegen der größeren Fächervielfalt haben wir uns keine höheren Jahrgangsstufen zugemutet. Der Unterricht findet in Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Islamische Angelegenheiten in Moscheen statt.

Er wird so angelegt, daß die Mädchen sich Teile des Unterrichtsinhalte selber erarbeiten müssen. Das soll sie dazu befähigen, sich auch dann noch weiter zu bilden, wenn ihnen unser Programm einmal nicht mehr zur Verfügung steht. Sie erhalten täglich je eine Stunde Unterricht in den Fächern Persisch, Mathematik und Religion. Zwei weitere Stunden bleiben sie zum Selbststudium unter Aufsicht ihrer Lehrerinnen in der Moschee. OFARIN wird in den nächsten Wochen einen Bericht über die Schulen für junge Mädchen herausgeben.

Generelles zum Erziehungsprogramm von OFARIN
Erfahrungen mit der Bürokratie

OFARIN hat sich mit seinen eher kleinen Programmen im Erziehungsbereich Nischen gesucht. Das zuständige Partner- Ministerium ist das für Islamische Angelegenheiten – im Falle der Waisenschule in Chak: das Ministerium für Arbeit und Soziales. Die Zusammenarbeit mit diesen Ministerien ist konstruktiv und freundschaftlich. Dagegen ist das Erziehungsministerium ganz in zentralstaatliches Planen und Handeln verfallen. Es verfügt kaum über eigene Mittel, schreckt aber mögliche Unterstützer staatlicher Schulen durch einen Dirigismus ab, der die Verwalter der verblichenen Sowjetunion mit Neid erfüllen kann. Das Erziehungsministerium nimmt denjenigen, die helfen wollen, jede Möglichkeit mit angepaßten Methoden für die betroffenen Kinder das Beste aus den vorhandenen Mitteln zu machen. 

Wenn wir ein Schulhaus für eine Mädchenschule in Wardak bauen wollen, können wir einen ortsüblichen Lehmbau hinstellen, sofern wir mit dem Ministerium für Islamische Angelegenheiten zusammenarbeiten. Untersteht die Schule aber dem Erziehungs- Ministerium, müssen wir uns einen Steinbau vom Schulbauamt des Erziehungs- Ministeriums planen lassen und müssen während der Bauphase Ministerial- Bürokraten für ihre angebliche Mitarbeit entlohnen. So reich sind wir nicht. Ähnlich drastisch sind die Vorschriften in allen Bereichen, etwa hinsichtlich der Lehrerfortbildung oder der Bezahlung von Lehrern. Die meisten Entwicklungsländer sind unterentwickelt, weil ihre staatlichen Bürokratien mit einem quasi- kommunistischen Totalitätsanspruch jede Eigeninitiative verhindern und jeden Fortschritt erdrosseln. Es ist schlicht unmoralisch mit dem jetzigen afghanischen Erziehungsministerium zusammen zu arbeiten. 

OFARIN erschließt im Erziehungswesen Afghanistans kein absolutes Neuland. So gibt es auch Programme anderer Organisationen für Mädchen, die lange nicht in die Schule gehen konnten. Der Bedarf an solchen Aktivitäten ist groß. OFARIN nimmt aber auf die Unterrichts- Methoden, die in seinen Programmen angewandt werden, Einfluß. Wir bemühen uns intensiv darum, die Lehrer dazu zu bringen, auf das Verständnis aller ihrer Schüler zu achten. Darüber hinaus versuchen wir die Lehrer daran zu gewöhnen, den Kindern die Freiheit zum selbständigen Denken zu geben. Auch der Ansatz, Mädchen, die mit fünfzehn oder sechzehn Jahren die zweite oder dritte Jahrgangsklasse besuchen, an die Eigenarbeit heranzführen, ist ein Spezifikum von OFARIN. Andere Organisationen beauftragen afghanische Agenturen mit der Durchführung des Unterrichts. Dabei werden dann die verheerend schlechten Lehrmethoden, die in Afghanistan üblich sind, angewandt. Von solch’ freudlosem Unterricht profitiert bestenfalls ein kleiner Bruchteil der Schüler. 

Nothilfeaktivitäten, Brunnen für Trinkwasser

OFARIN hatte während der Bombardements der Amerikaner im Herbst 2001 Sondermittel des Deutschen Caritas- Verbandes (DCV) für Nothilfeaktivitäten erhalten. Andere Restmittel aus DCV-Programmen durften ebenfalls für solche Zwecke eingesetzt werden. Das ermöglichte es uns u.a. neue Trinkwasserbrunnen für zwei Krankenhäuser anzulegen, deren alte Brunnen ausgetrocknet waren. Es sind noch nicht alle DCV-Notmittel ausgegeben. Die bisher in diesem Winter gefallenen Niederschläge lassen befürchten, daß Afghanistan auch 2003 unter der Dürre leiden wird. Ein kleineres Krankenhaus hat bereits um die Erstellung eines Brunnens gebeten. OFARIN wird wohl auch 2003 Notbrunnen bauen. Über die Brunnenbauaktivitäten ist ein gesonderter Bericht vorgesehen.
 
Kabul, 19.1.2003       Peter Schwittek
Mehr über OFARIN finden Sie hier.

Kampf gegen Lepra und Tuberkulose in Afghanistan:
Überblick über die Arbeit von LEPCO im Januar 2003
- Stiftung von Franz Beckenbauer sitzt mit im Boot -
- von Peter Schwittek -
Führungswechsel bei LEPCO
Kabul, den 20.1.2003 - Der bisherige Direktor von LEPCO, Dr. Thomas König, hat das Programm im Dezember 2002 übergeben. Sein designierter Nachfolger, Dr. Sebastian Dietrich, nimmt im Augen-blick an einer vierwöchige Vorbereitung auf die Lepra- und Tuberkulose- Arbeit in Addis Abeba teil. Er hat bereits in ländlichen Gesundheits-Programmen im Sudan gearbeitet und in Europa an Kursen teilgenommen, in denen er seine Kenntnisse über die Durchfüh-rung solcher Programme in Entwicklungsländern vertieft hat. Bei der Gelegenheit hatte er seinen Vorvorgänger, Dr.Epco Hasker, kennen gelernt und so Kontakt zu GESA bekom-men. Dr. Dietrich wird nach seiner Rückkehr aus Äthiopien noch Vorbereitungskurse bei der AGEH besuchen. Hier wird er vor allem afghanisches Persisch lernen. In der zweiten Aprilhälfte wird er in Afghanistan erwartet. In der Zwischenzeit werde ich die afghani-schen Führungskräfte von LEPCO bei der Durchführung ihrer Aufgaben unterstützen.

Dabei geht es zunächst darum, die Buchführung auf den aktuellen Stand zu bringen und einen Finanzbericht für 2002 zu erstellen. Dr. König hatte bei der Übergabe der Ge-schäfte keine Buchführung vorgelegt. Es sieht so aus, als sei die finanzielle Lage von LEPCO angespannt. Allerdings gibt es um diese Jahreszeit in der Regel einen Spezialef-fekt: Die Kliniken im Hazarajat schneien im Winter ein und können erst wieder im April oder Mai erreicht werden. Sie müssen daher im Spätherbst nicht nur mit ausreichenden Mengen von Medikamenten, sondern auch mit langfristigen Vorschüssen versorgt wer-den, was jeden gestandenen Buchhalter erschauern läßt. Schließlich muß der Jahre-sabschluß dem externen Prüfer vorgelegt werden.

Außerdem sind einige Personalentscheidungen nötig, die aber im Rahmen des Üblichen liegen. Über Fragen der Ausstattung der Kliniken und über Baumaßnahmen wird Dr. Dietrich entscheiden. Im Winter läßt sich in dieser Hinsicht kaum etwas tun.

Dr. König hatte ein Mutter- und Kind- Gesundheitsprogramm begonnen, indem er einige Mitarbeiter in ein vorbereitendes Training nach Indien schickte. Da es sich bei diesen Kursteilnehmern ausnahmslos um Mitarbeiter handelte, die zur Aufrechterhaltung des sonstigen Betriebes dringend erforderlich sind, ist ein Einstieg in dieses Programm im Augenblick lediglich in Waras möglich. Die weitere Entwicklung dieses Programmes wird Dr. Dietrich in die Hand nehmen.

Umzug des Hauptbüros

Schon jetzt werden wir uns intensiv um den Umzug des Hauptbüros von Peshawar nach Kabul kümmern. Hier muß zunächst ein geeignetes Grundstück gefunden werden. Auch die Schwesterorganisation OFARIN sucht ein neues Anwesen. Die Mitglieder von GESA sind auch Mitglieder von OFARIN. Im neuen An-wesen von OFARIN sollten auch kleine Verbindungsbüros der befreundeten Organisati-onen CPHA (Krankenhaus in Chak-e-Wardak, das von Karla Schefter geleitet wird) und „Verein zur Unterstützung Afghanischer Flüchtlingskinder“ (Verein von Ulla Nölle) Platz finden. Es bietet sich an, dass OFARIN mit LEPCO zusammen geht. Doch das er-forderte ein sehr großes Grundstück. Und so etwas wird nur selten angeboten. Es wäre auch zufriedenstellend, wenn wir für LEPCO und OFARIN (mit Verbündeten) getrennte Anwesen fänden. Die dann nötigen Reparaturarbeiten werden erfahrungsgemäß einige Monate in Anspruch nehmen. In Pakistan könnten wir (LEPCO, OFARIN und CPHA) später ein gemeinsames kleines Verbindungsbüro unterhalten.

Operationsprogramm für das Hasaradschat in Zusammenarbeit mit der Franz-Beckenbauer-Stiftung

Im April 2002 hatte Franz Beckenbauer gemeinsam mit dem Bundeskanzler Kabul be-sucht. Franz Beckenbauer wollte durch seine Stiftung etwas für das notleidende Afgha-nistan tun. Die Deutsche Botschaft empfahl ihm, sich im Hasaradschat zu engagieren und wies ihn besonders auf das LEPCO- Programm hin. Natürlich war der Vorstand von GE-SA sehr an dieser Zusammenarbeit interessiert. Doch mußten bei der Auswahl eines ge-eigneten Programmes Rahmenbedingungen beachtet werden, die die Möglichkeiten ein-schränkten. Die Franz- Beckenbauer- Stiftung wollte sich zunächst nur einmalig engagie-ren. LEPCO stand ein Führungswechsel ins Haus. Der neue Direktor, also Dr. Dietrich, mußte ausreichend Zeit finden, sich in die Grundaufgaben von LEPCO hinein zu finden, bevor er das Programm auf weitere Aufgabenbereiche ausdehnte.

GESA konnte den in Kabul tätigen Orthopäden Dr. Willy Kemmer dafür gewinnen, die Verantwortung für ein an LEPCO angelehntes Operationsprogramm zu gewinnen. Dabei wird es in erster Linie um die Beseitigung von Sekundärfolgen der Lepra gehen. Aber es ist auch an andere – vorwiegend orthopädische – Operationen gedacht. Dr. Kemmer kann in Kabul afghanische Spezialisten für kurzfristige Einsätze anheuern. Der ebenfalls sehr Afghanistan- erfahrene Dr. Joch könnte mit einem Interplast- Team spezielle Operationen durchführen. Weitere deutsche Chirurgen haben ihre Mitarbeit angeboten. Der Beitrag von LEPCO bräuchte dann nur darin zu bestehen, Patienten auszusuchen, die entspre-chende Operationen nötig haben. Es sollen auch andere Organisationen, die im Hasarad-schat medizinisch arbeiten, gebeten werden, Patienten vorzuschlagen. Für die Patienten-transporte wäre dann schon Dr. Kemmer zuständig.

Im November 2002 sind Dr. Kemmer und ich ins Hasaradschat gereist, um einen geeig-neten Ort für die Durchführung der Operationen zu suchen. Wir haben uns für das Kran-kenhaus in Yakaolang entschieden. Dieses untersteht der afghanischen Organisation Shu-hada (geleitet von der ehemaligen Ministerin für Frauenfragen Dr. Sima Sawar). Es ar-beitet dort ein Team von MSF-Spanien. Das Krankenhaus ist für afghanische Verhältnis-se sehr gut ausgestattet. Es verfügt über einen ordentlichen OP. Dort führt ein junger af-ghanischer Chirurg einfachere Operationen durch. Er ist sehr kooperativ und freut sich darauf, viel hinzu zu lernen. Auch Shuhada und MSF-Spanien waren angetan von der Aussicht auf diese Zusammenarbeit. Vermutlich müssen zur Unterbringung der Patienten und ihrer Begleiter noch Häuser gebaut oder saniert werden. Hierzu bietet sich das Kran-kenhausgelände, aber auch die LEPCO- Klinik in Yakaolang an. Yakaolang wird von Paktec regelmäßig, aber auch im Charter-Verkehr, angeflogen, so daß ausländische Spe-zialisten, die keine Zeit für die spektakuläre Anreise über Land haben, schnell von Pa-kistan oder Kabul aus einfliegen können. Das Programm wird wegen des langen Winters im Hasaradschat und der noch notwendigen Baumaßnahmen erst im Frühsommer begin-nen können. Das kommt der Franz- Beckenbauer- Stiftung entgegen, die sich 2002 auch noch in den deutschen Hochwassergebieten engagierte hat und eine Atempause braucht. Ursprünglich sollte das Operationsprogramm schon 2002 anlaufen.

Einstieg in die Physiotherapie?

Dr. Kemmer möchte die Gelegenheit nutzen, einen Überblick über den Bedarf an einem Programm zur Bekämpfung orthopädischer Leiden zu gewinnen. Solche Krankheiten las-sen sich meist nicht allein durch Operationen aus der Welt schaffen. Sehr oft sind statt Operationen oder in Ergänzung zu Operationen physio- therapeutische Behandlungen nötig. Bisher werden solche Behandlungen nicht in Zentralafghanistan durchgeführt, während im Westen und Osten des Landes andere Organisationen mit Unterstützung der UNO physio- therapeutisch arbeiten. Es liegt also nahe, daß das Operationsprogramm für LEPCO der Einstieg in ein Physiotherapie- Programm im Hasaradschat sein könnte. Al-lerdings müssen Physiotherapeuten gut ausgesucht und lange vorbereitet werden. Bei ei-ner Entscheidung über ein solches Programm wird das Urteil von Dr. Dietrich eine aus-schlaggebende Rolle spielen. 
 
Peter Schwittek
Mehr Informationen über Lepco finden Sie hier.


Alltag Afghanistan 2002:
'Der Consultant' - eine Kurzgeschichte
- von Peter Schwittek -

Damit beim Wiederaufbau Afghanistans nichts schief geht, hat Deutschland einige "Consultants" hergeschickt. Die sitzen in bestimmten Ministerien und beraten diese bei der Durchführung ihrer Aufgaben. Einen davon besuchte ich gemeinsam mit dem Kollegen Wagner. Der Consultant berichtete aus seinem Arbeitsalltag: "Neulich kommt einer von der Kabuler Stadtverwaltung zu mir und fragt, wie man die Sanierung der Stadt am besten angehen soll. ,Das ist doch ganz einfach.' habe ich dem gesagt. ,Da nehmen Sie sich zunächst einmal einen Stadtteil vor. Das darf nicht gleich der größte sein. Aber der kleinste sollte es auch nicht sein. Und dort fangen Sie an. Zuallererst müssen Sie die offenen Kanäle an den Straßenrändern zuschütten. Da steht doch eine entsetzliche Brühe drin. Das ist eine Brutstätte für etliche Krankheiten.'"

Wagner versuchte einzuwenden, daß diese Kanäle dazu da seien, das Regenwasser aufzunehmen, und vor allem im Winter das Schmelzwasser. Damit war der Consultant nicht zu bremsen: "Ach was? In den letzten sechs Jahren waren die Winter hier knochentrocken. Jedenfalls müssen die Dinger zugeschüttet werden. Und dann muß in diesem Stadtteil jedes Haus einen Anschluß an das Abwassersystem erhalten und einen an die Trinkwasserversorgung, einen an die Elektrizitätsversorgung und einen ans Telefonnetz. Ja, und wenn dann der eine Stadtteil fertig ist, kommt der nächste dran. So saniert man eine Stadt...
Aber entschuldigen Sie, Herr Wagner, daß ich etwas abrupt überleite. Aber ich habe noch ein ganz anderes Anliegen. Könnten Sie mir vielleicht unter die Arme greifen?"

"Darf ich fragen, worum es geht?"

"Sehen Sie dort in dem Regal die sechs Leitz-Ordner? Das sind die einzigen Ordner, die es im ganzen Ministerium gibt. Wenn Sie noch etwas Geld für mich übrig hätten, könnte ich für das Ministerium etwas Büromaterial kaufen."

Begegnung in Kabul:
Die Staatssekretärin
- von Peter Schwittek -
Wir hatten den Vertrag ausgehandelt. Ein Text war gefunden worden, dem beide Seiten zustimmen konnten. Doch nun fragte der Minister: "Hätten Sie etwas dagegen, daß meine Stellvertreterin den Vertrag unterzeichnet?" Warum das? Wieso wollte er nicht selber unterschreiben? Er nickte mir zu. Ich konnte nicht ablehnen. So besuchten wir einige Tage später die Staatssekretärin. Zwei afghanische Kollegen begleiteten mich, die als Dolmetscher einspringen konnten, wenn es knifflich würde. 

Doch die Staatssekretärin begrüßte uns auf Deutsch: "Ich habe 22 Jahre in Deutschland gelebt. Damals, als hier die Kommunisten an die Macht kamen, sind wir geflohen. Mein Mann hat in Deutschland umgelernt und wurde Berufsschullehrer. In einem Jahr wird er pensioniert. Vielleicht kommt er danach auch her. Aber wissen Sie - ich glaube nicht, daß ich das hier noch lange aushalte.

Nein, der Ramasan jetzt - das ist nicht so schlimm. Daran müssen wir Moslems uns halten. Damit komme ich zurecht. Aber die Arbeit stößt auf viele Widerstände.

Ich stamme aus Kandahar. Ganz früher habe ich dort ein Fraueninstitut geleitet. Deshalb hat man mich im Frühjahr als Auslandsafghanin zur Loya Dschirga [der großen Versammlung, die die Spitzen der jetzigen Regierung bestimmte] eingeladen. Der Staatspräsident Karzai ist ja auch aus Kandahar. Er kannte mich noch. Ich habe ihm eine Medaille von der deutschen Wiedervereinigung überreicht, und er bat mich, in Afghanistan eine Aufgabe zu übernehmen. So wurde ich Staatssekretärin.

Wenn meine Familie in Deutschland nicht abgesichert wäre, könnten wir uns das hier nicht leisten. Die unterstützen mich. Ich verdiene im Monat umgerechnet 41 $. Das reicht nicht für die Wohnungsmiete. Und ich kann ja als Frau nicht einfach alleine in Kabul leben. So ist ein Schwager mit seiner Frau aus Farah hergezogen. Die wohnen bei mir. Sonst kenne ich hier niemanden. In Kandahar gibt es wahrscheinlich noch ein paar Verwandte und Freunde, obwohl die meisten auch irgendwann irgendwohin geflohen sind. Aber Kabul ist eine ganz fremde Stadt für mich. Ich fühle mich hier unsicher. In Deutschland habe ich überall Freunde und Bekannte, aber hier ... Ich weiß nicht, wie lange ich das noch durchhalte." 

In meiner Verlegenheit erzählte ich ihr, daß ich im Dezember nach Hause fliegen würde. Das hätte ich Ihr ersparen sollen. So mußte sie darauf eingehen: "Nach Hause - ich hoffe, daß wir das im Januar schaffen. Das kostet ja über 700 €. Die bringt meine Familie frühestens im Januar auf. Und dabei wäre ich so gerne Weihnachten zu Hause. Diese Stimmung und die Geschenke ... und das eine Lied hat mir immer ganz besonders gefallen."

Infos zu LEPCO


Auf dem Lande:
Beim Malik
- von Peter Schwittek -

Ein Malik ist ein Dorfältester. Wir hatten in diesem Dorf ein Kreditprogramm durchgeführt. Jetzt ging es um die Rückzahlung. Einige der Bauern sträubten sich. Sie hatten die Mittel nicht erfolgreich eingesetzt. Der Malik hatte die Verträge gegengezeichnet. Jetzt mußte er schlichten. Wir konnten sein Haus nicht gleich finden. Auf der Straße fragten wir einen alten Mann in weißem Gewand und Turban, wo das Haus des Malik sei. "Dann sind wir gemeinsam Gäste des Malik." sagte der Mann. "Ihr steht vor seinem Haus." 

Wir stiegen gemeinsam in den Gästeraum im ersten Stock. Mindestens 25 m ist dieser Saal lang. Hier können bestimmt 200 Personen Platz finden. Auf den Kissen, die an den Wänden ausgelegt sind, saßen aber nur drei jüngere, europäisch gekleidete Afghanen. Der Malik sei auf seinen Feldern. Es sei schon jemand unterwegs, ihn zu holen. 

Die drei Herren kamen aus Peschawar. Sie arbeiteten für eine afghanische Organisation, und führten mit UN-Geldern ein Programm durch. Sie unterstützten Afghanen, die aus dem Ausland zurückgekehrt waren. Sie untersuchten die Wohnverhältnisse solcher Rückkehrer und konnten Mittel zur Verfügung stellen, um es diesen Menschen zu ermöglichen, Räume auszubauen oder anzubauen. Der Malik sollte ihnen eine Liste solcher Rückkehrer aufstellen.

Mein Kollege wandte sich an den Gast, mit dem wir gekommen waren. Er war aus Baghram, vielleicht 40 km von hier entfernt. Vor zwei Jahren habe er einem Mann aus diesem Dorf hier zwei Kühe verkauft. Der habe die Tiere weiterverkauft, noch bevor er sie ihm bezahlt habe. Das Geld, das der andere eingenommen habe, habe der verspielt, so daß er nichts erhalten habe. Er habe sich an den Malik gewandt. Durch dessen Vermittlung habe man sich auf eine monatliche Ratenzahlung geeinigt. Aber die monatliche Rate war kaum höher als die Kosten seiner Reise nach hier und zurück. So käme er alle zwei Monate her, um zwei Raten in Empfang zu nehmen. Jetzt sei das wieder mal fällig, und er hoffe, daß er diesmal etwas bekomme.

Mein Kollege sah mich an, und wir dachten an unsere Kredite. Ein Blick auf die Uhr tröstete etwas. Es war halb zwölf. Der Malik konnte unsere Anliegen nicht mehr am Vormittag erledigen. Er mußte uns zum Essen einladen. 

www.OFARIN.de


Situationsbericht aus Kabul:
Politische Stabilität und Wirtschaft in Afghanistans bedingen einander
- von Peter Schwittek -

Kabul, den 27.3.2003 - Unter den Taliban durften Fotografen in Kabul nur Paßbilder anfertigen. Frisöre durften nur die Haare schneiden, aber niemanden rasieren. Frauen durften nur im engsten Familienkreis ihre Kleider zeigen. Die Kunst der Schneider war kaum gefragt. 

Die Taliban sind weg. Kleine Dienstleister können wieder atmen. Auch werden überall Fernsehschüsseln hergestellt. In den Geschäften gibt es alles zu kaufen. Computer und anderes hochwertiges Büromaterial braucht man nicht mehr aus Pakistan zu importieren. Die Auswahl an Teppichen ist viel größer geworden. Immer neue Restaurants werden eröffnet. Man kann sich italienisch, thailändisch, deutsch, chinesisch, irisch oder indisch verköstigen lassen. Es wird viel gebaut. Fremde glauben, es gäbe keine afghanischen Installateure oder Elektriker. Es gibt sogar ganz gute. Man kommt nur nicht mehr an sie heran. Der Straßenverkehr in Kabul hat Ausmaße angenommen, die es hier noch nie gab.

Geht es also voran mit der Wirtschaft? Wegen des beginnenden Irak-Krieges verfügten die UNO und andere große Hilfsorganisationen für zwei Tage die Schließung ihrer Büros. Alle Fahrzeuge mußten in den Garagen bleiben. Prompt floß der Verkehr und man brauchte von A nach B nur noch halb so lange wie ein paar Tage zuvor - und leider auch danach. Wird der Verkehr ganz wesentlich von den Prunkkarrossen der Ausländer produziert? Lebt vielleicht die ganze wirtschaftliche Erholung, über die wir uns gerade gefreut haben, nur von den fremden Helfern?

Bautätigkeit ist eigentlich ein gutes Maß für die Konjunktur. Mit dem Verschwinden der Taliban strömten internationale Hilfsorganisationen in die zerstörte Stadt. Sie brauchten Büroräume und Unterkünfte. Binnen eines Vierteljahres verzehnfachten sich die Mietpreise. Es lohnte sich zu bauen oder zu sanieren, um Ausländern Angebote zu machen. Das eingesetzte Geld amortisierte sich in wenigen Monaten. Afghanen, die auf diese Art schnelles Geld gemacht hatten, mieteten selber besseren Wohnraum an - und verdrängten ärmere Landsleute. Hunderttausende von Flüchtlingen kehrten zurück. Für Afghanen stiegen die Mieten schmerzlich. Mithalten können vor allem diejenigen, die eine Beschäftigung bei einer internationalen Organisation gefunden hatten.
Es gibt auch öffentliche Bautätigkeit. Auf dem Land sieht man viele neue Schulhäuser. Ministerien werden saniert. Aber all das ist von außen finanziert. Dieser Bauboom ist kein Zeichen einer sich selbst tragenden Konjunktur. 

Die Ausländer und die Afghanen, die bei ihnen angestellt sind, kaufen reichlich Konsumgüter. Der afghanische Handel ist flexibel und deckt diesen Bedarf. So lebt auch der Handel indirekt von der importierten Kaufkraft einer Minderheit. Verschwänden die Ausländer, bräche der Handel weitgehend zusammen. 

Ein Teil der Nahrungsmittel und des Verbrauchsmaterials wird im Inland hergestellt. Die Landwirtschaft hat Krieg und Bürgerkrieg ganz gut überstanden - wenn man von den Schäden absieht, die die Taliban durch die brutale Entsiedlung einiger Landstriche angerichtet haben. Was Handwerksbetriebe ohne große Investitionen in Produktionsmittel herstellen können, stellen sie her. Unser Zehn- Kilowatt- Generator ist ein Spitzenprodukt derzeitiger afghanischer Handwerkskunst: Ein gebrauchter Motor eines japanischen Pkws, ein neuer chinesischer Dynamo und ein russisches Armaturenbrett werden auf einen Wagen mit Gummirädern montiert. Der robuste Generator liefert zuverlässig Strom, mit dem man problemlos Computer betreiben kann. Allerdings können nur drei Kabuler Betriebe solche Geräte bauen. 

Die engen Grenzen der Kabuler Wirtschaft wurden mir klar, als ich ein gekochtes Ei vorgesetzt bekam und dessen auffallend guten Geschmack lobte. Der Gastgeber strahlte und erläuterte, daß ich ein "heimisches Ei" gegessen habe. Ich fragte, was ich denn zu Hause für Eier esse. "Iranische, es könnten auch pakistanische sein." war die Antwort. Es mag zwar einer EU-Richtlinie entsprechen, daß Hühnereier, die in Deutschland produziert und verzehrt werden, mindestens einmal in holländischen Lastzügen an die Küste des Mittelmeeres gefahren werden müssen - aber Afghanen sind richlinien-resistent, und der Zustand hiesiger Überlandstraßen sollte iranische Eier von Kabuler Frühstückstischen fernhalten. Er schafft es nicht. Während man das ausländische Hühnerei für dreieinhalb Afghani bekommt, kostet das einheimische fünf. In Friedenszeiten belieferten Hühnerfarmen aus der Umgebung die Stadt Kabul mit Eiern und Geflügelfleisch. Nichts dergleichen ist wiedererstanden. Es fehlt an tierärztlichen Kapazitäten. Die Gefahr, durch eine Krankheit alle Hühner einer solchen Anlage zu verlieren, ist groß. Auch die regelmäßige Belieferung mit Hühnerfutter ist ein Problem.

Vor allem fehlt es jedoch an der politischen Sicherheit. Wo man ohne große Investitionen produzieren kann, tut man es. Wo sich große Investitionen schnell amortisieren, werden sie riskiert - so im Baubereich. Doch wo sich aus Investitionen erst in einigen Jahren Gewinn erzielen läßt, wird kein Finger gerührt. Sicher gibt es in Afghanistan nur geringe Kapitalreserven. Aber eine beträchtliche Anzahl Afghanen könnte sich Geld bei Geschäftspartnern oder Verwandten im Ausland besorgen. Viele Afghanen, die im Ausland leben und sich dort als Unternehmer bewährt haben, würden sich gerne auch in der Heimat engagieren. Wirtschaftlicher und technischer Sachverstand wäre da, um Produktionen aufzubauen. Unter den gegebenen Bedingungen geschieht aber nichts. Niemand baut eine Fabrik, die fünf Jahre arbeiten muß, bis sie ihre Erstellungskosten erwirtschaftet hat. Wer weiß denn, ob nicht in achtzehn Monaten wieder Banditen freie Hand haben, die aus den Nachbarländern finanziert werden? Außerdem arbeitet die wiederentstehende afghanische Verwaltung zielstrebig an der Errichtung eines zentralisierten Staates, wie ihn sich Kommunisten erträumen. Privatwirtschaftliches Handeln droht von einer allmächtigen und korrupten Bürokratie abgewürgt zu werden.

Bald nach dem Neubeginn war erkennbar, daß die Intervention des Westens nicht ausreicht, um Afghanistan die Entwicklung einer gefestigten Ordnung zu ermöglichen. Die militärischen Mittel, die die internationale Gemeinschaft aufbietet, reichen nur dazu, die Stadt Kabul zu sichern. Eine Entwaffnung der verschiedensten Banden und Kriegsfürsten riskierte man nicht. Die Macht in der Hauptstadt wurde denen überlassen, die man zu Siegern über die Taliban gemacht hatte - den Vertretern einer ethnischen Gruppierung, die keine fünf Prozent der Bevölkerung ausmacht. Denen finanzierte man zu allem Überfluß auch den Aufbau einer "nationalen Armee" - in Wirklichkeit einer Stammesmiliz. Diejenigen, die so zum Zuge kamen, haben keine Chance, von den anderen Landsleuten als nationale Regierung respektiert zu werden. Sie wissen es selber und nutzen die Gunst der Stunde, um mitzunehmen, was mitzunehmen ist. Das Land ist jetzt ihre Beute. Sie werden es ausweiden, bis sich ein stärkeres Raubtier zeigt. 

Auch die anderen Afghanen sind überzeugt, daß es so nicht ewig bleiben wird. Irgendwann wird es zu Umwälzungen kommen, und die bringen - nach allem, was man im letzten Vierteljahrhundert erleben mußte - Zerstörungen. Also investiert man nicht. Und das macht es noch unwahrscheinlicher, daß sich politische Stabilität entwickelt. Die Masse der Bevölkerung bleibt arbeitslos und unzufrieden. Ehemalige Milizionäre haben keine andere Perspektive, als sich wieder irgendeinem Warlord anzuschließen. Für das militärische Engagement des Westens ist kein Ende abzusehen. Es wird in seinem jetzigen Umfang gerade den wackligen Status quo aufrecht erhalten können. Afghanistan wird so kein Land werden, das zur Stabilität der Region beiträgt - im Gegenteil. 

Das humanitäre Engagement des Westens bestand darin, daß man schnell viel Geld zusammenkratzte - einige Milliarden Euro, je nachdem wie man rechnet. Für die Staatengemeinschaft war das ein erträglicher Aufwand, für Afghanistan viel mehr als es verkraften kann. Nach Krieg, Bürgerkrieg und Talibanherrschaft gab es keine afghanische Verwaltung, die den Hilfssegen hätte sinnvoll nutzen können. So wurde das meiste Geld durch Hilfsorganisationen ausgebeben, die gehalten sind, solche Projekte durchzuführen, mit denen die heimatlichen Zentralen den Beifall von Geldgebern und Spendern erringen können. Mit den Bedürfnissen der Afghanen hat das wenig zu tun. Eine gewisse Koordination der Hilfsbemühungen versucht man nachträglich zu installieren. Ein Konzept, das Perspektiven für eine langfristige Entwicklung aufzeigte, gibt es nicht. Profit machen die fernen Zentralen der Hilfsorganisationen, namentlich die der Vereinten Nationen. Hunderte von Kabuler Büros der Helfer mußten mit Computern und angemessenen Fahrzeugen ausgestattet werden. Für die notleidenden japanischen Automobilkonzerne war das zwar nur ein Tropfen auf den heißen Stein; der Stadt Kabul gereicht es zum täglichen Verkehrsinfarkt. 

Mit dem schwindenden Interesse der Welt an Afghanistan gehen die Hilfsmittel zurück. Gewählte Regierungen können es sich nicht leisten, viel Geld in ein Land zu pumpen, das im Fernsehen keine angemessenen Katastrophen mehr vorweisen kann. Ein langes, gut überlegtes Engagement wäre nötig gewesen. Man kann es nicht durch einen auch noch so gewaltigen einmaligen Kraftakt an Hilfsbereitschaft ersetzen. Es ist als ginge über Felder, die eine regelmäßige Bewässerung brauchen, eine riesige Flutwelle hinweg. Das humanitäre Engagement der internationalen Gemeinschaft hat dank der Entsendung der Helfer eine wirtschaftliche Scheinblüte hervorgebracht. Zu einem dauerhaften Erstarken der Wirtschaftskraft Afghanistans hat es nicht beigetragen.

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